Die Geschichte einer Mutter

Janelle M. Hallman

Vor über einem Jahr erhielt ich eine E-Mail von Margie – einer Mutter, deren Tochter sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte. Margie erzählt ihre Geschichte in der Hoffnung, dass sie anderen Müttern dadurch helfen kann, eine sichere und heilsame Beziehung zu ihren Töchtern aufzubauen. Nachdem sie von den inneren Kämpfen ihrer Tochter erfahren hatte, riet sie ihr zunächst, mit einer Seelsorgerin darüber zu sprechen. Sie ermutigte ihre Tochter, sich neue Freunde zu suchen und schlug ihr vor, bis zum Ende ihres Studiums wieder zu Hause zu wohnen. Margie war darauf fixiert, „das Problem“ ihrer Tochter „zu beseitigen“. Aber all ihre Bemühungen konnten nicht verhindern, dass ihre Tochter schließlich eine feste gleichgeschlechtliche Beziehung einging.

Doch dann hatte Margie einen Traum, der sie dazu veranlasste, einen anderen – und wie es schien, riskanteren – Weg einzuschlagen. In dem Traum erlebte sie eine neue Art von Beziehung zu ihrer Tochter. Im Vertrauen auf diesen Traum begab sich Margie intuitiv auf eine „Reise“ zu dem Ort, an dem sich ihre Tochter emotional und mental damals befand. Zunächst fragte sie in einer freundlichen und interessierten Weise nach der Arbeit, den Freunden und dem Lebensumfeld ihrer Tochter. Ihr Missfallen sprach sie nicht aus, sondern verarbeite ihre eigenen sorgenvollen Emotionen erst später. Auf ihre Tochter reagierte sie wie eine Freundin, die versucht, die Gefühle der Tochter zu verstehen und nachzuempfinden.

Margie bat ihre Tochter schließlich, ihr die Gefühle zu beschreiben, die sie im Zusammenhang mit der Hinwendung zum eigenen Geschlecht empfand, und fragte sie, warum sie diese Gefühle ihrer Ansicht nach erlebte. Zu Margies Überraschung sprach ihre Tochter sehr offen darüber. Obwohl Margie sich dabei überhaupt nicht wohlfühlte und sich weit jenseits all ihrer Überzeugungen bewegte, hörte sie ihrer Tochter bewusst zu, ohne sie zu kritisieren. Allerdings musste sie dabei ständig gegen ihre Angst ankämpfen, ihr schweigendes Zuhören könne ihre Tochter ermutigen, sich umso mehr einer lesbischen Identität zuzuwenden. Margie hatte sich zum Ziel gesetzt, durch ihre Feinfühligkeit und ihre Empathie buchstäblich in die Welt ihrer Tochter einzutauchen. Schließlich wurde Margies Tochter entspannter, weil sie spürte, dass Margie sich wirklich für sie, ihre Partnerin und ihren Freundeskreis interessierte. Auch fühlte sie sich im Blick auf ihre gleichgeschlechtlichen Empfindungen verstanden. So fing sie an, ihrer Mutter zu vertrauen.

Nach einer Phase wachsenden Vertrauens und bedingungsloser Liebe konnten Margie und ihre Tochter sich schließlich über die Vergangenheit der Tochter und über die Dynamik innerhalb ihrer Familie unterhalten. Gemeinsam trugen sie die Splitter zusammen – und das half Margie, die tiefe Verwirrung ihrer Tochter bezüglich ihrer geschlechtlichen Identität besser zu verstehen. Doch gerade, als alles gut zu laufen schien, hatten Margie und ihre Tochter eine äußerst heftige Auseinandersetzung. Ihre Tochter zog sich emotional zurück und wollte nicht mehr über persönliche Dinge sprechen. Aber Margie blieb geduldig und begegnete ihrer Tochter auch weiterhin in einer ermutigenden, unterstützenden und mitfühlenden Weise.

Die Wege von Margie und ihrer Tochter trennten sich für einige Jahre, doch Margie hielt in einer angemessenen (d.h. in einer unterstützenden aber nicht grenzverletzenden) Weise durch Anrufe und Mails den Kontakt. Schließlich erzählte ihre Tochter, dass sie mit einem Mann befreundet wäre. Margie reagierte mit derselben unterstützenden und interessierten Haltung wie bisher, obwohl sie wusste, dass ihre Tochter gerade eine unglaubliche emotionale und mentale Veränderung durchlebte.

Ein Jahr danach befreundete sich ihre Tochter nur noch mit Männern. Ihr Interesse an Liebesbeziehungen zu anderen Frauen ließ mehr und mehr nach. Weitere Jahre später erhielt Margie eine Hochzeitsanzeige von ihrer Tochter, in der sie die bevorstehende Heirat mit einem jungen Mann ankündigte, mit dem sie seit einer Weile befreundet gewesen war. Margie ist überglücklich über das Leben, das ihre Tochter heute führt, doch sie wäre auch bereit gewesen, den Weg ihrer Tochter so lange mitzugehen, wie ihre Tochter es gebraucht hätte. Noch heute spürt Margie die emotionale Erschöpfung ihrer neun Jahre währenden Bemühungen, ihrer Tochter nahe zu sein und ihr in ihre Welt zu folgen. Doch sie gesteht, dass jede Minute die Mühe wert war. Margie versteht ihren Traum als ein Geschenk Gottes.

Ich erzähle diese Geschichte nicht, um eine Garantie abzugeben, dass die bedingungslose Annahme und die dauerhafte emotionale Verbundenheit von Eltern oder Therapeuten automatisch bewirken werden, dass eine Tochter oder Klientin sich gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen entscheidet. Ich erzähle diese Geschichte als eine Ermutigung an alle Eltern, in ihrer Liebe zu dem geliebten Menschen festzubleiben, solange dieser Mensch lebt. Töchter brauchen diese heilsame und liebevolle Verbundenheit zu jeder Zeit. Die Liebe gibt niemals auf.

Quelle: http://www.ivpress.com/title/ata/3429-supplement.pdf, S.89-91