Auf der Suche nach dem männlichen Ich

Ein Therapiebericht

Joseph Nicolosi

Charlie kämpft mit homosexuellen Gefühlen und erkennt im Verlauf seiner Therapie, was diese Gefühle mit seiner männlichen Identität zu tun haben. Durch die therapeutischen Gespräche gelingt es ihm, den verlorenen Teil seines Ichs wiederzufinden und ihn zu leben.

Einer der intelligentesten und klarsichtigsten Männer, die ich jemals das Vorrecht hatte, kennenzulernen, war Charles Kleenan – oder Charlie, wie er genannt werden wollte. Charlie war schmächtig gebaut und hatte einige etwas weiblichere Eigenarten, aber dahinter steckte kein weicher Charakter. Charlie war ein ungewöhnlich starker und zielbewusster Mensch. Mit seinen 32 Jahren war er der Leiter einer großen biomedizinischen Universitätsbibliothek, in der er bereits seit Jahren arbeitete. Er war belesen, redegewandt und hochgebildet.

Als er das erste Mal zu mir kam, ging er gerade durch den Raum und setzte sich ohne Umschweife hin wie jemand, der genau weiß, was er will. „In den letzten zehn Jahren habe ich viel mit dem homosexuellen Lebensstil geflirtet“, sagte er. „Seit einem Jahr habe ich einen homosexuellen Freund. Derek heißt er. Es ist kein schlechtes Verhältnis – wir behandeln uns gut –, aber ich will mehr, viel mehr vom Leben. Das kann doch nicht alles sein!“
„Was meinen Sie mit ‚nicht alles’?“ fragte ich.
„Ich habe keine Frau, ich habe keine Kinder, und ich habe nicht die Art Beziehung, in der ich alt werden möchte.“
„Und was für eine Beziehung ist das, die Sie da suchen?“
„Also … ich merke einfach, dass bei dem, was ein Mann einem anderen Mann geben kann, etwas fehlt.“
Er seufzte und suchte nach den richtigen Worten. „Wissen Sie, die meisten Schwulen behaupten, dass Homosexuelle halt so geboren sind. Aber für mich ist es einfach eine Beleidigung meiner Menschenwürde, wenn mir einer sagt, dass ich so bin, weil meine Gene so sind. Ich stecke jetzt schon eine ganze Zeit im schwulen Lebensstil, und ich kann Ihnen sagen: Wenn ein Mann sich so nach Männlichkeit sehnt, dass er sie aus einem anderen Mann heraussaugen muss, dann ist da ein handfestes Problem.“
Seine Stimme wurde ärgerlich. „Ich will nicht schwul sein, und ich werde nie schlucken, dass das aus meiner Erbmasse kommen soll.“
Ich zündete meine Pfeife an und beugte mich nach vorne. Was dieser Mann sagte, war interessant.
„Ich hab Dutzende von Büchern über Homosexualität gelesen“, sagte Charlie. „Wenn man einen Job in einer Uni-Bibliothek hat, kommt man ja an die Sachen ran.“ Er kicherte. „Meine Mittagspause verbringe ich in der entsprechenden Abteilung – WM 16. Eines der Bücher, die ich gelesen habe, ist Ihr Reparative Therapy of Male Homosexuality. Was Sie da schreiben, leuchtete mir ein, und als ich herausfand, dass Sie im Raum Los Angeles wohnen, beschloss ich, Sie anzurufen.“
„Es freut mich, dass das Buch Ihnen geholfen hat“, sagte ich. „Wie ist das mit dem Syndrom des männlichen Geschlechtsidentitätsdefizits, das ich darin beschreibe? Deckt sich das mit Ihren eigenen Erfahrungen?“
Charlie lachte. „Das ist die Geschichte meines Lebens!“
„Dann erzählen Sie mir mehr über sich. Fangen wir mit Ihrer Kindheit an.“

Wir lehnten uns bequem in unsere Sessel zurück. Charlie sah seufzend aus dem Fenster. „Also, wenn ich so auf meine Kindheit zurückblicke, dann sehe ich, dass ich wohl mit einem Sinn für Kunst geboren bin und vielleicht mit etwas zu wenig Durchsetzungsvermögen.“
Ich spürte seinen Redeeifer, aber auch, wie er um die richtigen Worte rang. „Ich glaube, ich hatte nicht die … üblichen männlichen Freunde, weil ich … irgendwie anders war, sensibler. Als Kind wurde ich am Knie operiert und hinke seitdem etwas, und das hat mich aus vielen Männerdingen ausgesperrt – die ganzen Bolzplatzsachen und so. Aber ich glaube nicht, dass ich damit automatisch homosexuell wurde.“
„Das finde ich auch“, sagte ich. „Viele prähomosexuelle Jungen entsprechen dem Bild, das Sie mir gerade gegeben haben – sensibel, nicht aggressiv, nicht integriert bei den anderen Jungen. Aber auch manche heterosexuelle Jungen passen in dieses Bild. Es braucht schon etwas mehr, um einen Jungen homosexuell zu machen.“
„Tja“, lachte Charlie, „dieses Etwas hab ich leider gehabt – ich hatte den klassischen homosexuellen Familienhintergrund. Ich bin in einem richtigen Frauenhaus aufgewachsen – überbehütende Mutter, herrschsüchtige Großmutter und zwei ältere Schwestern. Mein Vater hat sich wohl sehr früh gesagt: ‚Ich bin diesem Familienkram nicht gewachsen; ich bin da, ich zahle die Rechnungen, aber was in diesem Haus vorgeht, da hänge ich mich nicht rein.’ Er hatte eigentlich zu keinem von uns eine richtige Beziehung. Er war im wesentlichen ein Schwächling – er war nett, aber er gehörte nicht wirklich dazu.“
Nach einer kurzen Pause fuhr Charlie fort: „Ich bin sicher, dass mein Vater seine eigenen Minderwertigkeitsprobleme hatte. Es stimmte was nicht mit ihm. Ob er nun auch homosexuell war oder nicht – es stimmte was nicht mit seiner Männlichkeit, er wusste nicht, wie man sich als Mann im eigenen Haus verhält. Wahrscheinlich wusste er nicht recht, was er mit einem Sohn anfangen sollte. Er kriegte diesen kleinen Jungen und dachte: ‚Um Himmels willen, was mach ich bloß mit dem?’
Meine Mutter und Großmutter verzogen mich zu einem Waschlappen. Ich las, zeichnete, war ein Stubenhocker – Sie kennen das ja alles. Man kann sagen, dass meine Mutter mich viele Jahre lang aufsog. Sie benutzte mein Leben für sich selber. Ihre Beziehung zu ihrem eigenen Vater war verheerend, und die zu ihrem Bruder und später zu ihrem Mann auch. Da war ich der neue kleine Mann, den sie sich zurechtkneten und an dem sie ihren ganzen Mist auslassen konnte. Sie wollte endlich die Männerbeziehung haben, nach der sie sich immer gesehnt hatte, und da nahm sie mich in Beschlag und sog mich aus.“
„Danach wollten Sie sicher nie mehr etwas von Frauen wissen?“
„Also, ein, zwei Freundinnen hab ich schon gehabt. Aber jede Frau, mit der ich ging, war wie meine Mutter. Ich hatte kein Ich, keine Würde, keine Grenzen bei meiner Mutter. Und Mama heiraten – nein, danke!“ Er lachte. „Ich gerate immer an die Falsche. Immer wieder falle ich in das, was Sie so treffend die Rolle des lieben kleinen Jungen genannt haben.“
Er fuhr fort: „Ich hasse das. Der liebe kleine Junge hat das Leben aus mir ausgesaugt.“ Er schlug mit der Faust auf die Sessellehne, in seinem Gesicht standen Beschämung und Wut.
„Und wann kamen Sie darauf, dass Sie wohl homosexuell wären?“
Charlie schloss einen Augenblick die Augen und lehnte sich zurück. „Ich war so um die 13 damals, und ein paar Teenagerjungen luden mich zum Zelten ein. Ich war viel mit Mädchen zusammen, und sie hielten mich wohl für gut informiert in Frauensachen. Aber dann nahm mich der Boss der Gruppe, Andy, unter seine Fittiche, die Sache wurde sexuell und zack! hatte ich beim Boss der Meute ‚nen Stein im Brett und wurde sein Schützling: Ich gebe ihm Sex und er mir seinen Schutz.“
„Der Sex“, erklärte ich, „wurde Ihre sofortige Eintrittskarte in die Welt der Männer.“
„Richtig“, sagte er. „Ich fühlte mich auf einmal wie ein Mann, ich gehörte endlich dazu, hatte einen Zugang zu diesem Jungen bekommen, den ich immer schon aus der Ferne bewundert hatte. Ich begriff nicht, was da vor sich ging, aber ich dachte: Sei nicht blöd, egal, was es kostet … und … es war ja auch ziemlich toll, die Sache.“
„Und seitdem hatten Sie oft Sex mit Männern?“
„Eigentlich nicht. Es dauerte noch einmal ein paar Jahre, bis ich in diesen Lebensstil rutschte. Im College hatte ich ein paar Freundinnen, aber dieser Andy ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich stellte mir gerne vor, dass er mitmachte.“
Ich war verwirrt. „Stellten Sie sich etwa während des Verkehrs mit Ihrer Freundin vor, dass Sie Sex mit Andy hatten?“
„Nein, nicht so. Andy stand dabei und feuerte mich an.“
„Das ist interessant. Ich glaube, dieser Phantasie-Andy diente Ihnen als Krücke Ihres verletzten männlichen Selbst“, sagte ich.
„Ja … kann sein. Ich stellte mir immer vor, wie er neben dem Bett stand und …“ – er suchte nach dem richtigen Wort – „… mir half. Er sagte mir, dass ich toll war, dass ich es richtig machte, er feuerte mich an.“
Ich erklärte ihm: „Dieser Phantasiemann war die Krücke, die Ihr männliches Identitätsdefizit symbolisch ausglich.“
„Kann schon sein. Ich war ja wirklich mit meiner Freundin zusammen, und in gewissem Sinne machte es mir auch Spaß… aber irgendwie brauchte ich Andy.“
Charlie war fähig, heterosexuell zu funktionieren, aber er brauchte das Hilfsbild der Männlichkeit eines anderen Mannes. Sein Phantasie-Andy offenbarte eine Art, auf die der „reparative Antrieb“ zur Heilung verletzter Männlichkeit benutzt wird. Und er schlug mir auch eine Brücke zur Erklärung dessen, was wir in der Therapie tun würden.
„Charlie, diese ganze Therapie wird die Aktualisierung dieses Phantasiemannes aus den Tiefen Ihrer eigenen Psyche sein, so dass Sie ihn in sich selber finden und nicht mehr die Männlichkeit eines anderen Mannes sexuell ausleihen müssen.“
„Ihn in mir selber finden?“ sagte Charlie. „Das gefällt mir – das anzapfen, was ich schon bin, aber bisher noch nicht verwirklicht habe.“ Er sagte, dass er darüber nachdenken wolle, und damit schlossen wir unsere Sitzung.

In der folgenden Woche beschlossen wir, uns einige Kindheitsprobleme anzusehen. „Wissen Sie, Joe“, sagte Charlie, „ich bin als Kind zu kurz gekommen.“ Er balancierte auf der Kante seines Sessels. „Man könnte sagen, der Betrug bestand darin, dass ich Mamas kleiner Mann war.“
Er holte ein silbernes Feuerzeug hervor. „Entschuldigen Sie … Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche? Wenn ich so nervös bin, muss ich was mit meinen Händen machen.“
„Kein Problem.“ Ich reichte ihm einen Aschenbecher vom Bücherregal und lehnte mich zurück.
„Ich habe viel darüber nachgedacht, was Sie letztes Mal sagten.“ Er gestikulierte heftig mit seiner Zigarette. „In gewisser Weise hab ich mich dann selber weiter betrogen, indem ich mich in diese homosexuellen Beziehungen verrannte und mich nicht aufraffte, die Männer, in die ich mich verliebte, selber zu werden.
Ich bin doch als Mann geboren. Das ist meine Identität, das will ich sein, und zwar vollständig.“ Er beugte sich nach vorne, seine Stimme wurde laut und frustriert. „Nicht, dass ich niemals männlich sein wollte … ich fühle mich einfach so verunsichert. Wissen Sie, was ich meine? Ich bin mir immer wie einer vorgekommen, der nicht zum Klub dazugehört. Und dieses Gefühl will ich ändern! Ich will die Männlichkeit, die ich an anderen so beneide, für mich selber in Anspruch nehmen, ich will aufhören, andere Männer anzuhimmeln. Aber wissen Sie, was mich am meisten auf die Palme bringt?“ Er legte die Zigarette ab und sagte heftig: „Die Gesellschaft, die Psychologie, die Homosexuellen – alle wollen sie mir einreden, dass ich so geboren bin, dass ich andere Männer begehre. Aber ich bin nicht so geboren! Das ist eine Wunde, eine Verletzung von außen!“
Ich musste ihn bewundern, diesen intelligenten, jungen Mann mit seiner so hart erworbenen Selbsterkenntnis. Er hatte sich selber in Frage gestellt und mit sich gekämpft, und die Auffassung, zu der er gekommen war, war eindeutig nicht von der Art, die einem die Sympathien der Homosexuellenszene eintrug.
„Wie ich schon sagte, bietet mein Beruf mir die Gelegenheit, jede Menge Bücher über Homosexualität zu lesen“, sagte Charlie. „In vielen der älteren psychoanalytischen Bücher finde ich mich wieder. Die klassische Familie mit versagendem Vater und überbehütender Mutter. Der Junge, der keine Balgereien mochte. Aber bei den neueren Büchern kriegt man glatt den Eindruck, dass alle Welt der Meinung ist, Homosexualität sei etwas Angeborenes, Unveränderliches und genauso normal wie Heterosexualität. Aber was soll denn da normal sein?“
Dann brachte Charlie ein Kernproblem des homosexuellen Daseins zur Sprache. „Ich habe schon immer gewusst, dass ich Beziehungsschwierigkeiten mit Männern und Frauen habe, was Nähe anbetrifft. Ich weiß, dass das mit meiner Homosexualität zu tun haben muss, aber ich weiß nicht genau, wie.
Mein größtes Problem ist dieses dauernde Einsamkeitsgefühl. Ich gehöre nirgends dazu. Obwohl ich auf meiner Arbeit den ganzen Tag von Menschen umgeben bin, lebe ich innerlich isoliert. Letzte Woche habe ich mich wieder so leer und ruhelos gefühlt, wie Wackelpudding. Alles war mir zuviel, ich konnte mich zu nichts aufraffen.“
Sein attraktives, sanftes Gesicht wurde traurig und hoffnungslos. Ich wartete. Er seufzte und fuhr fort: „Neuerdings habe ich es geschafft, homosexuelle Kontakte zu vermeiden … Aber vielleicht liegt das nur daran, dass ich älter werde und meine Libido abnimmt, wie?“ Er lächelte kläglich.
Ich hörte aus seinem kleinen Witz eine deutliche Neigung zur Selbstverachtung heraus. Er schien nicht das Positive in seiner erfolgreichen Enthaltsamkeit zu sehen. Viele Homosexuelle tun sich in der Therapie schwer, ihre eigenen Leistungen anzuerkennen. Sie haben nicht gelernt, ihre persönliche Kraft zu sehen.
Charlie seufzte ungeduldig auf und sah mir direkt in die Augen. „Ich komme gerade ohne Sex aus, aber ich bin so einsam und … ich möchte wissen, wie ich Sex mit Männern für immer aufgeben kann. Nur aus reiner Willenskraft – das ist einfach zu schwer.“
„Ich freue mich, dass Sie das sehen“, sagte ich.
„Ich fühle mich so müde, so geschafft, so frustriert. Dauernd der gleiche Trott und kein Ausweg.“
„Direkt unter diesem Frust“, sagte ich, „versteckt sich eine ungenutzte Energie. Wenn Sie nicht an diese Energie herankommen und aus ihr schöpfen, fallen Sie in eine ausgewachsene Depression, und wissen Sie, was dann passiert? Die Depression ist die Ruhe vor dem nächsten sexuellen Sturm.“
„Das weiß ich nur zu gut“, sagte Charlie. „Wenn ich nicht was unternehme, um wieder auf die Beine zu kommen, dann kann’s einen ganz schönen Crash geben. Ich hoffe, Sie können mir helfen, das richtige Feuer anzuzünden und wieder auf Kurs zu kommen. Das ist wirklich komisch – obwohl ich intellektuell soviel über mein Problem weiß, fühle ich mich emotional immer noch nicht verändert.“
„Nun, Charlie, unsere Sitzung ist schon wieder um. Denken wir also bis zum nächsten Mal über dieses Paradox nach. Denn Sie haben recht: Es ist ein Riesenunterschied, ob man sich im Kopf verändert oder in seinen Gefühlen.“

Als wir uns am nächsten Dienstag wieder trafen, fuhr Charlie mit dem Thema der letzten Woche fort. „Sie hatten recht, als Sie mir sagten, dass ich sehr hart zu mir selber bin. Das ist ein Teil meines Problems. Ich halte mir nie etwas zugute. Es fällt mir furchtbar schwer, mir selber auf die Schulter zu klopfen. Ich kriege eine neue Idee und bin ganz begeistert, und dann lasse ich den Ball fallen, kriege tausend Bedenken und fabriziere mir alle möglichen Zweifel und Ängste, von denen ich genau weiß, dass sie unnötig und unrealistisch sind. Und tief drinnen fühle ich dauernd diesen dumpfen Schmerz.“
Und dann kam es: „Eine der Sachen, die mich immer wieder lähmen und depressiv machen, ist, dass ich irgendwie nicht weiß, wie ich mich innerlich von meinen Eltern abnabeln soll – wie ich es hinkriegen soll, die Nabelschnur zu durchtrennen und doch noch …“ – er suchte wieder nach den richtigen Worten – „… ihr Freund zu bleiben.“
„In einer Beziehung mit ihnen zu bleiben, aber nicht als Kind“, stellte ich klar.
„Ja. Eine Art Beziehung unter Gleichen aufzubauen.“ Er dachte einen Augenblick nach. „Ich kann bei meinen Eltern nicht real sein, nicht wirklich ich selber. Ich weiß nicht, wie ich eine echte Beziehung zu ihnen kriege; ich weiß ja gar nicht, was meine Gefühle für sie sind.“
Charlie begann, die Tatsache aufzuarbeiten, dass seine Eltern ihn nicht ehrlich behandelt hatten. Damit trat er in eines der schmerzlicheren Stadien der reparativen Therapie ein. Aus ihren eigenen narzisstischen Bedürfnissen heraus hatten seine Eltern, vor allem die Mutter, von ihm verlangt, immer der brave kleine Junge zu sein und damit seine Entwicklung zu Männlichkeit und Selbständigkeit verkrüppelt.
„Der Schmerz, den Sie in sich spüren, kommt daher, dass Sie erkennen, dass Sie nicht in Ihrem Sosein, als Individuum anerkannt wurden“, sagte ich. „In mancher Hinsicht wurden Sie vernachlässigt, in anderer Hinsicht verwöhnt. Ihre Eltern gaben Ihnen kein starkes Bewusstsein Ihrer selbst.“ Es ist diese Art Kindheit, die die Autoren Leanne Payne und Colin Cook den Homosexuellen als „Waisenkind“ beschreiben lässt.
„Ja, vielleicht ist es das“, sagte Charlie. „Intellektuell bin ich jemand, aber emotional… Manchmal fühle ich mich wie ein Nichts, wie ein Mr. Niemand, und das macht mich dann so wütend …“
Ich sagte: „Zurückgehen und sich Ihre wirkliche Identität holen bedeutet, dass Sie anfangen müssen, sich durch den Schmerz hindurch zurückzuarbeiten.“
„Und was ist mit meiner Wut? Ich bin oft so wütend.“
„Natürlich. Dieser Zorn ist eine Verteidigung gegen den Schmerz, gegen die Ungerechtigkeit. Deswegen sind so viele Schwule wütende Menschen. Ihre Wut richtet sich nicht einfach gegen die Intoleranz der Gesellschaft gegenüber dem Homosexuellen; sie entspringt ihrem unterschwelligen Bewusstsein, dass ihnen in ihren Kindheitsjahren ein Teil ihrer innersten Identität weggenommen wurde.“
„Aber wie stelle ich mich diesen Wutgefühlen gegenüber meinen Eltern? muss ich meine Eltern innerlich verstoßen?“
„Ich glaube nicht, dass Sie sie verstoßen können. Ihre Aufgabe besteht darin, ihnen als ebenbürtiger Erwachsener gegenüberzustehen und nicht mehr als der kleine Junge, den sie manipulieren können.“
Er seufzte auf. „Ich fühle mich wie gelähmt, wenn ich daran denke, was da vor mir liegt.“
„Dies ist eine kritische Übergangsphase in Ihrer Therapie. Sie sind nicht mehr der manipulierte kleine Junge, aber Sie wissen noch nicht, wie man der autonome Erwachsene wird.“
„Das ist genau mein Problem“, sagte er. „Wie werde ich gegenüber meinen Eltern erwachsen? Ich weiß, dass ich meinen Vater nicht ändern kann. Als Kind konnte ich ihn nie dazu kriegen, mich in irgendeiner Weise anzuerkennen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich mich für seine Sportarten interessiert hätte – Flößen und Angeln. Aber ich bin nur ein paarmal mitgegangen, weil ich keine Lust hatte, die ganze Nacht Mücken totzuschlagen und dem Geheule der Kojoten in den Büschen zuzuhören… Als ich nicht mehr mitgehen wollte, ich glaube, da hat er sich wirklich von mir abgelehnt gefühlt. Zum Teil war ich vielleicht selber schuld daran, dass er mich an meine Mutter und Schwestern abgab.“
„Wenn Sie sich darauf konzentrieren, Ihren Vater zu verändern, sabotieren Sie Ihre Therapie. Sie können ihn sehr wahrscheinlich nicht ändern – aber Sie können Ihre Beziehung zu ihm ändern. Es hat keinen Sinn, dass Sie hier eine Niederlage vorprogrammieren, denn das wird Sie …“
„… nur zu dem nächsten Mann führen, und das will ich nicht mehr“, sagte er abrupt.
„Und nächste Woche kommen Sie sowieso mit den gleichen Problemen wieder“, fügte ich hinzu.
„Ja, da haben Sie recht.“ Dann fügte er nachdenklich hinzu: „Sobald ich die Sache mit meinem Vater wegschiebe, kommen meine inneren Kämpfe wieder. Eine Zeitlang kann ich das alles schon vergessen, aber mir ist klar, dass ich damit nur Zeit kaufe und dass ich mich früher oder später diesem Problem stellen muss. Und wenn ich ihn nicht ändern kann, dann muss ich meine Beziehung zu ihm ändern.“
Ich spürte, wie Charlie sich selber unter Druck setzte und dass ich ihn etwas beruhigen musste. „Sie müssen das ja nicht sofort alles lösen“, sagte ich. „Der große Vorteil dieser Therapie ist, dass es so viele Wege nach vorne gibt: sich körperlich betätigen, gesunde Männerfreundschaften aufbauen, einen auf Gegenseitigkeit und Achtung basierenden Dialog mit Ihren Eltern beginnen. Es gibt jede Menge Aufgaben, die Sie in Bewegung halten.“
„Ich komme mir so festgefahren vor …“
„Die reparative Therapie betont das Aktive, die Initiative, die täglichen Herausforderungen des Lebens“, erklärte ich. Aber wenn Sie auf der bewussten Ebene festgefahren sind, dann achten Sie doch auf die unbewusste. Achten Sie darauf, was in Ihren Träumen hochkommt.“ Auch wenn Charlie sich im Augenblick in einer Sackgasse fühlte, konnte er viel von dem ständigen Strom seines Unterbewusstseins lernen.
Charlie dachte nach. Dann sagte er plötzlich: „In der letzten Nacht hatte ich einen ganz komischen Traum, ich kann mich nur schattenhaft daran erinnern. Als ich wach wurde, war er mir schon fast wieder entglitten, so kurz war er…“ Er zögerte, dann sagte er: „Ah, jetzt kommt es wieder. Ich stehe nackt vor meinem Vater.“
Er sah mich an und sagte: „Das war alles.“
„Haben Sie dabei etwas gespürt?“ fragte ich.
„Nein, eigentlich nicht.“ Er zuckte die Achseln.
„Keine sexuellen Gefühle?“
„Nichts. Einfach so ein nüchternes ‚Hier bin ich.’“
„Und wie verstehen Sie diesen Traum?“
„Keine Ahnung. So etwas hab ich noch nie geträumt.“
„Was könnten Sie damit zu sagen versuchen, dass Sie nackt vor Ihrem Vater stehen?“
„’Hier bin ich. Guck mich an!’“
„Dieser Traum hat ein reparatives Thema“, sagte ich. „Er ist ein Versuch zur Selbstheilung. Ihr Vater steht für die Männlichkeit, die nie zu Ihnen zurückgespiegelt wurde, die männliche Bestätigung, die Sie so gerne bekommen hätten. Sie sagen ihm: ,Guck mich doch an! Sieh mich als das, was ich bin! Ich bin ein Mann, erkenne das endlich an!’ Das ist es, was Sie wollen. Ich glaube, dies ist ein wichtiger Traum, der genau das wiedergibt, was Sie hier in dieser Therapie erreichen wollen.“
Charlie lächelte. „Exakt! Dieses Bild ist so einfach und gleichzeitig so symbolisch. Ja, das ist es, was ich will!“ Ein verwunderter Blick glitt über sein Gesicht. „Das ist phantastisch! Tief drinnen in meiner Seele weiß ich, was ich brauche, und ich arbeite schon darauf hin.“
Er lachte. „Vielleicht bin ich doch nicht so festgefahren, wie ich dachte.“ Und in dieser optimistischen Stimmung beendeten wir unsere Sitzung.

Ein paar Sitzungen später erinnerte sich Charlie, wie er als Kind einem älteren Jungen sexuell zu Willen gewesen war. Voller Scham und Verlegenheit gab er zu, dass das kein einmaliger Vorfall gewesen war, sondern ein regelmäßiges Muster. Jetzt versuchte er sich wieder in die Welt des kleinen Jungen zu versetzen: Was hatte er damals gesucht?
Er fragte – und der Schmerz und die Scham standen deutlich in seinem Gesicht –: „Warum tut ein Junge so was, Joe?“
„Weil er etwas rauslassen musste, ein Bedürfnis erfüllt haben musste“, antwortete ich.
„Aber warum auf diese Art?“ Er saß steif in seinem Sessel, das Gesicht gerötet und ärgerlich.
Dann gab er die Antwort selber: „Es war eine Suche nach mir selber. Es war etwas, was ich nicht in mir selber fand.“

Damit sprach Charlie ein Schlüsselelement der homosexuellen Existenz an: dass sie eine Suche nach einem verlorenen Teil des Ich darstellt.
Zu Beginn meiner klinischen Arbeit mit Homosexuellen dachte ich noch, es handele sich einfach um ein sexuelles Problem. Später sah ich es als ein Problem der männlichen Geschlechtsidentität. Heute sehe ich die Homosexualität als ein Problem der Persönlichkeitsidentität; sie stellt einen Verlust des eigentlichen Ich dar und einen Verlust von Aspekten der persönlichen männlichen Kraft.
„Die meisten der Jungen, mit denen ich Sex hatte, sind heute verheiratet“, sagte Charlie. „Sie sind nicht an der Homosexualität kleben geblieben wie ich.“
Charlies Beobachtung war zutreffend. Für viele Jungen befriedigt die Homoerotik einfach eine normale Neugier. Aber für andere – wie auch für Charlie – ist sie der Ausdruck eines tieferen emotionalen Hungers. Charlie hatte das Bedürfnis, seine männliche Grundidentität zu verwirklichen – und dieses Bedürfnis versuchte er in der sexuellen Beziehung zu Männern zu erfüllen.
Ich fragte ihn: „Als Sie dann im homosexuellen Lebensstil steckten, hat Sie das befriedigt?“
„In gewisser Weise schon“, sagte Charlie. „Das konnte ein sehr befreiendes Gefühl sein. Nach einem strammen Arbeitstag in der Bibliothek ging ich auf ein paar Stunden in eine Schwulenbar, und da war ich dann endlich unter lauter Typen, die in den gleichen Problemen steckten wie ich, und man brauchte sich nichts vorzumachen, nichts zu verstecken. … Manchmal lernte ich da einen netten Mann kennen und ging mit ihm für ein paar Stunden nach Hause. Das war so ähnlich wie ein richtig gutes Essen nach einem harten Arbeitstag.“
Wie er das Wort Essen gebrauchte … Konnte man den homosexuellen Geschlechtsverkehr mit Essen, Verschlingen vergleichen? Bedeutete Fellatio den gleichen unbewussten Trieb, sich etwas dringend Benötigtes buchstäblich einzuverleiben? So ein „Essen“ kann ein Akt sein, der Bilder von dem anderen Mann im eigenen Selbst weckt, der das Selbst stärkt. Ich musste an die Männer-Initiationsriten bei Eingeborenenstämmen wie den Sambia in Neuguinea denken, wo Jungen durch das Ritual des Schluckens des Samens erwachsener Männer in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen werden.
Ich musste auch an C.G. Jungs Erkenntnis über die Homosexualität denken. Für Jung war sie, wie sein Biograph es paraphrasiert hat, „ein unterdrücktes, undifferenziertes Element der Männlichkeit im Mann, … das, anstatt aus den Tiefen seiner eigenen Psyche … entwickelt zu werden, auf einer biologischen Ebene durch ‚Verschmelzen’ mit einem anderen Mann gesucht wird.“ (Jacob 1969, S. 51)

Charlie und ich gingen zu den Strukturen über, die man so oft in den Familien von Homosexuellen antrifft. Verteidiger der Homosexualität, die diese als strikt genetisches Phänomen betrachten, sind gegen jede Erforschung der familiären Wurzeln der Homosexualität und schieben die klassischen psychoanalytischen Ergebnisse als „unbewiesen“ und „überholt“ beiseite. Sie haben Angst, dass dann, wenn tatsächlich eine Verbindung mit ungesunden Familienstrukturen bewiesen werden sollte, die Gesellschaft der Homosexualität intoleranter gegenüberstehen wird. Aber, wie ich mich schon oft gefragt habe: So wichtig Toleranz auch ist, darf sie auf Kosten der Wahrheit gehen? Warum können wir nicht beides haben – Wahrheit und Toleranz?

Ich erklärte Charlie, wie ein prähomosexueller Junge im Allgemeinen dem von Alice Miller (1987) so genannten „missbrauchten Kind“ entspricht, wobei aber unter Missbrauch etwas Besonderes verstanden werden muss. Die Mutter benutzt den prähomosexuellen Sohn oft zur Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse, die ihr Mann ihr nicht erfüllt hat. Ihr „lieber kleiner Junge“ repräsentiert ein verzerrtes weibliches Bild dessen, was „ein richtiger Mann“ ist. Der Vater missbraucht den prähomosexuellen Jungen auf eine verstecktere Art. Er kann liebevoll, aber unfair sein, oder das Beste wollen, aber den Jungen vernachlässigen. Manchmal opfert er seinen Sohn dem mütterlichen Bedürfnis nach einem „Schoßkind“; er gibt den Jungen ab, damit die Mutter glücklich ist. Wie auch immer die Einzelheiten sind – der Junge wird in dieser Dreierbeziehung auf eine Art benutzt, die seine Männlichkeit preisgibt.
Charlie sagte langsam: „Mit anderen Worten: Der Junge ist für seine Mutter erst akzeptabel geworden, nachdem er seine Männlichkeit ausgelöscht hat.“
„Er hat sie nie ausgelöscht“, korrigierte ich. „Man hat ihm nie Gelegenheit gegeben, sie überhaupt in Anspruch zu nehmen. Um bei Mutter nicht in Ungnade zu fallen, musste er vielleicht sogar sein Verlangen nach Männlichkeit verleugnen. Der Preis der Mutterliebe war die Unterdrückung seines Strebens nach Männlichkeit.“
„Deswegen, weil sie wollte, dass er für immer ihr kleiner Junge blieb?“ fragte Charlie.
„Oft. Viele Mütter wollen immer nur ihren lieben, guten, reinen Bub haben – Mamis kleiner Schatz. Aber diese Rolle schließt Männlichkeit aus, denn zu Männlichkeit gehört nun einmal Selbständigkeit, Autonomie, persönliche Macht. Was den Jungen von seiner Mutter unterscheidet, ist ja genau seine Männlichkeit. Sobald er diese aber ausdrückt, denkt die Mutter: ‚Er wird nicht so wie ich sein.’ Manche Mütter fühlen sich durch diesen Geschlechtsunterschied bedroht.“
„Ungefähr so, als ob sie am liebsten ihn als Partner hätten.“ Charlies Gesicht zog sich angewidert zusammen.
„Ja“, sagte ich. „Wobei diese Mütter nicht den bewussten Wunsch haben, dass ihre Söhne homosexuell werden. Wenn sie zwanzig Jahre später herausfinden, dass ihr Sohn homosexuelle Probleme hat, sind sie sehr oft ganz schockiert. Sie begreifen nicht, dass sie doch selber mit das Fundament dafür gelegt haben.“
„Und während die Mutter sich diesen lieben kleinen sexuell neutralisierten Jungen schafft, steht der Vater daneben und tut nichts!“ Charlies Stimme klang eine Spur zornig.
„Richtig. Eine wichtige Erziehungsrolle des starken Vaters besteht darin, das bequeme Symbioseband der Mutter-Sohn-Beziehung zu unterbrechen. Viele Väter meinen es gut – wie Ihrer auch –, aber sie merken einfach nicht, was da passiert.“
„Dann gibt es also vielleicht viele Jungen, die die gleiche Mutter hatten wie ich, aber ihr Vater trat dazwischen und stoppte diese Entwicklung. Hätte ich einen stärkeren Vater gehabt, der mehr eingegriffen hätte, wäre die Gleichung vielleicht anders aufgegangen.“
„Absolut. Und wenn Sie selber vielleicht etwas stärker und zäher gewesen wären, hätten Sie vielleicht Ihre Mutter wegdrücken und durch die Reserviertheit und Distanz Ihres Vaters durchdringen können. Aber Sie waren ein sensibles Kind, nicht der Typ, der den emotionalen Stier bei den Hörnern packt. Daher ist die Homosexualität meist nicht einfach ein Mutter-Sohn- oder Vater-Sohn-Problem, sondern ein Mutter-Vater-Sohn-Problem. Es ist eine Dreier-Balance. Der große Psychiater Irving Bieber hat das die triadische Beziehung genannt.“
Charlie erinnerte sich: „Das ist lustig, aber vor kurzem sah ich mir alte Familienfotos an, und da erzählte mir meine Schwester, dass ich nie mit aufs Bild wollte. Ich versuchte immer, mich vor der Kamera zu verstecken.“
„Sie zogen sich zurück, fühlten sich anders. Ich sehe das oft. Der prähomosexuelle Junge fühlt sich nicht als Teil der Familie.“
„Also, ich bestimmt auch nicht“, sagte Charlie.
„Das kann ich gut verstehen. Ihre Eltern nahmen Sie ja nicht ernst.“
„Ich wurde wie ein Besitzgegenstand behandelt. – Als ich im Gymnasium war, hatte ich Übergewicht, und die Kids ärgerten mich, nannten mich ,Dicker’ und ‚Fettsack’ und so. Aber meine Mutter schaute ganz stolz zu, wie ich einmal einen ganzen Schokoladenkuchen allein aufass. Noch heute erzählt sie, wie reizend der Junge aussah, als er den ganzen Kuchen schaffte.“
„Sie waren ein schönes, wertvolles Stück“, sagte ich.
„Wie die beiden kleinen Pudel, die sie sich anschaffte, als wir drei erwachsen waren und aus dem Haus gingen.“ Er lachte. „Die Hunde nahmen unseren Platz ein!“
„Sie mussten ein falsches Selbst vorleben, und dadurch Ihre Autonomie als auch Ihre männliche Identität opfern. Viele Menschen merken gar nicht, dass sie ein falsches Ich leben, bis sie zum ersten Mal etwas frei davon werden. Wenn Sie beginnen, in Ihrem eigentlichen Ich zu leben, bekommen Sie ein Gefühl der Befreiung, der Spontaneität, der inneren Kraft. Das falsche Ich dagegen macht gewöhnlich gehemmt, starr, gewissermaßen innerlich leer oder tot.“
„Und wird dieses wahre Ichbewusstsein auch anhalten?“ fragte Charlie. Dann sagte er, und seine Stimme klang freudig: „Ich fühle mich schon stärker. Ich mache Fortschritte in meinen nichthomosexuellen Freundschaften, und ich überlege, ob ich nicht einem Turnverein beitreten soll.“
„Gut. Sie gehen in die richtige Richtung.“
„Ich möchte mich wohler in meinem Körper fühlen“, sagte er. „Ich werde älter und allmählich ein bisschen schlaff.“ Er klopfte auf seinen Bauch. „Und das deprimiert mich. Früher, als Student, sah ich echt gut aus. Da hatte ich mein Dickerchen-Image gründlich abgeworfen; hatte mein Gewicht runtergekriegt und Ausgleichssport getrieben, um mich mehr sexy zu fühlen. Wenn die Leute in den Bars zu mir herübersahen, das war ein schönes Gefühl – Eitelkeit und so.“

Die Sache mit der „Eitelkeit“ führte uns in eine Diskussion jenes Merkmals männlicher Homosexualität, das ich Entfremdung vom eigenen Körper nenne. Homosexuelle neigen dazu, ihren eigenen Körper mit einer gewissen distanzierten Faszination zu betrachten, so, als sei er für sie nicht Subjekt, sondern Objekt. Der Körper des Homosexuellen und besonders sein Penis ist etwas, das er mit sich herumträgt, aber nicht wirklich besitzt. Dieses Gefühl, seinen eigenen Körper nicht zu besitzen, kann sich in Form von Minderwertigkeit oder Überheblichkeit äußern; was fehlt, ist das natürliche, gelassene Einssein mit dem Körper. Viele Klienten berichten, wie diese Abkoppelung vom Körper schon in früher Kindheit einsetzte. Dazu gehört auch ein übertriebenes Schamgefühl, das gewöhnlich auch im Erwachsenenalter anhält. Die Klienten berichten zum Beispiel, dass sie selbst bei heißem Wetter ungern ihr Hemd ausziehen oder dass sie eine Scheu hatten, sich vor anderen Jungen – sogar ihren Brüdern – auszuziehen. Solche Gehemmtheit kann auch mit Exhibitionismus abwechseln, der ja ein Versuch ist, die Gehemmtheit zu überkompensieren. Sowohl Gehemmtheit als auch Exhibitionismus sind Ausdruck der Entfremdung vom Körper.
Dieses Unbehagen gegenüber dem Körper kommt Jahre später beim jungen Mann typischerweise in einer Überbewertung der Penisgröße wieder hoch. Damit verbunden ist das Phänomen, in öffentlichen Toiletten neben anderen Männern nicht oder nur unter Schwierigkeiten urinieren zu können. Diese Dynamik der Körperentfremdung enthüllt uns ein Versagen der Familie (insbesondere des Vaters), den kleinen Jungen über seinen Körper in seine Männlichkeit zu integrieren.
Selbst beim Sport erlebt der Homosexuelle oft diese Distanzierung vom eigenen Körper. Er neigt dazu, die Bewegungen seines Körpers zu beobachten, anstatt einfach dieser Körper zu sein. Und weil ihm das Vertrauen in seine eigenen natürlichen Bewegungen abgeht, wird er dazu neigen, heterosexuelle Männer um eben dieses Vertrauen zu beneiden. Aus diesen und anderen Gründen sehe ich die Homosexualität nicht einfach als sexuelles, sondern als umfassenderes Problem: Es geht darum, wie man der Welt gegenübersteht.

Zum Thema „Eitelkeit“ sagte ich Charlie weiter: „Es ist toll, dass Sie etwas für Ihren Körper tun wollen, aber tun Sie es nicht aus Eitelkeit. Es darf nicht darum gehen, Ihren Körper vorzuführen – das ist ein Bedürfnis, das aus dem falschen Ich kommt. Nein, Ihr Ziel ist, ein Besitzergefühl gegenüber Ihrem Körper zu entwickeln. Sie sind Ihr Körper, Ihre Männlichkeit ist Ihr Zentrum. Sie tragen nicht Ihren Körper mit sich herum, sondern er trägt Sie. Der Stolz, den Ihnen Ihr Körper gibt, sollte aus Ihrer Identifizierung mit anderen Männern entspringen. Verstehen Sie diese Unterscheidung?“
„Absolut“, sagte er. „Ich kenne ja beide Seiten: einerseits den ,Guck meinen Körper an’-Trip, der narzisstisch ist, und andererseits das Gefühl, mein Zentrum in meiner Männlichkeit zu haben. Ja, ich kenne den Unterschied, aber manchmal ist es schwer, diese andere Selbstsicht durchzuhalten.“
„Das ist in Ordnung. Wichtig ist, dass Sie den Unterschied kennen.“
„Als ich mein Gewicht runtergekriegt hatte, war ich lange Zeit stolz auf diesen tollen Körper, der mir die bewundernden Blicke anderer Männer zuzog. Wenn die mich in den Bars anguckten, war ich happy. Aber irgendwie hasste ich es auch – es stand dem, was ich eigentlich wollte, im Weg.“
„Und was war das, was Sie wollten?“
„Einen Mann.“
Der Widerspruch überraschte mich. Ich fragte: „Und da stand Ihnen Ihr Körper im Weg?“
„Richtig.“
„Das müssen Sie mir erklären!“
„Der große Wunsch meines Lebens ist, einem Mann nahe zu sein. Nicht einem schwulen, sondern einem hundert Prozent natürlichen, männlichen. Aber solche Männer verlieben sich nicht in mich, die wollen ja, was sie nicht sein können — eine Frau. Das ist das Paradox der homosexuellen Neigung.“
Wir dachten darüber nach und beendeten unsere Sitzung.

Charlie machte bald exzellente Fortschritte in seinen Männerfreundschaften. Er fing an, regelmässig in ein Fitness-Center zu gehen, und entdeckte, dass er hier Männerfreundschaften aufbauen konnte, ohne von sexuellen Versuchungen überwältigt zu werden. Er sprach über einen neuen Freund, Rich, den er als „einen tollen Kerl“ beschrieb. „Ist kein Homo, ist sehr positiv und hat keine Ahnung von meinem inneren Ringen.“
„Da habe ich eine Frage“, sagte ich. „Fühlen Sie sich sexuell zu ihm hingezogen?“
Charlie dachte kurz nach. „Vielleicht ein bisschen. Manchmal vergleiche ich mich mit ihm und denke: ,Der hat was, das ich nicht habe’, und dann rutscht es ein kleines bisschen ins Sexuelle hinein.“
Er fuhr fort: „Letzte Woche kam Rich in den Umkleideraum. Er hatte ein T-Shirt an, und seine Muskeln waren richtige Pakete. Meine dünnen Arme und flache Brust machten mich verlegen, und da spürte ich diese Anziehung in mir hochkommen! Und dann sagte ich mir: ,He, wenn du das willst, was der hat, dann musst du daran arbeiten, wie er auch. Der hat diese Muskeln nicht über Nacht gekriegt, sondern mit ehrlichem Schweiß.’“

Von allen Männern, mit denen ich gearbeitet habe, konnte Charlie den größten Nutzen aus der reparativen Therapietechnik des Mentor-Selbstgesprächs (self-mentor talk) ziehen, bei dem man zu sich selbst mit der Stimme eines verinnerlichten starken, gütigen Vaters spricht.
Er erzählte mir weiter von seinem neuen Freund. „Rich bringt mich immer zum Lachen. Er hilft mir, etwas weniger tierisch ernst zu sein. Ich mag diese Spontaneität bei ihm, diese Begeisterung und diesen verrückten Humor. Er macht nicht aus einer Mücke einen Elefanten, wie ich das immer tue.“
Er schwieg einen Moment, dann erzählte er mir: „Kürzlich ist mir eine Wahrheit gedämmert, die wohl von Gott selber gekommen sein muss: Ich habe erkannt, dass es keinen Menschen in der großen weiten Welt gibt, der mir meine männliche Identität geben kann. Sie liegt in mir selber, nur dass sie noch schläft. Kein anderer Mann kann sie mir geben. Ich kriege sie auch nicht dadurch, dass ich mein äußeres Image ändere. Der wahre Schlüssel zur Veränderung liegt in der Verwirklichung dessen, was ich schon in mir selber habe.“
Charlie sprach eifrig weiter. „Vor ein paar Wochen gingen Rich und ich auf eine Wanderung, und es sah so aus, als ob es regnen würde, bevor wir zurück zu unserem Auto kamen. Rich schien das nicht zu jucken, und ich hielt meinen Mund, aber ich war nervös. Wenn meine Mutter sagte: ,Es gibt Regen!’, dann klang das immer wie Lungenentzündung und der sichere Tod. Den meisten Männern macht es natürlich nichts, wenn sie mal nass werden, aber Mutters ängstliche Stimme ist ständig in mir weitergelaufen, wie eine alte Platte. Und jetzt dachte ich: ,Schön, wenn ich nass werde, werde ich nass – na und?’ Nun, wir wurden nass bis auf die Haut. Ich dachte: ,Was jetzt?’ Aber Rich ging weiter, und ich sagte nichts, als ob mir das nichts ausmachte.“
Er warf mir ein leises Lächeln zu. Er schien glücklich zu sein, wieder eine Fessel seiner Mutter zerrissen zu haben.
„Ich glaube, ich mache wirklich Fortschritte“, sagte Charlie. „Ich hab das kürzlich in einigen Träumen gespürt. Letzte Nacht träumte ich, dass ich mit meinem Freund Eric am unteren Ende eines Bergpfads stand. Wir trugen Rucksäcke und Bergstiefel und hatten unsere Hemden ausgezogen in der Nachmittagssonne. Wir sahen beide muskulös aus, und ich fühlte mich gut. Plötzlich kamen zwei blonde Mädchen vorbei, und ich sagte: ,He, Eric, sehen die nicht gut aus?’ Er sagte ja, und ich spürte diese richtig unbekümmerte Freundschaft.“
„Sehr interessant“, sagte ich. „Und wie deuten Sie diesen Traum? Denken Sie an die beiden Grundregeln der Traumdeutung: Alles an einem Traum ist bedeutsam, und jeder Teil des Traumes stellt einen Teil Ihrer selbst dar.“
Er fing an: „Ich war in dem Traum glücklich darüber, einfach ich selber zu sein. Dann das Gefühl, sorglos und stark zu sein. Am liebsten hätte ich das Gefühl festgehalten und nie mehr losgelassen. Ich fühle mich nicht oft so, und das war ein richtiges Hochgefühl.“
„Aber jetzt frage ich Sie: Warum war Eric in dem Traum?“
„Lassen Sie mich nachdenken.“ Charlie lehnte sich zurück und schielte zur Decke hinauf. „Also … vielleicht sehe ich Eigenschaften an ihm, die ich selber gerne hätte.“
„Sicher“, sagte ich. „Und finden Sie, dass Sie diese Eigenschaften bekommen?“
„So langsam, ja.“
„Was für Eigenschaften?“
„Spontaneität, Freiheit. Dafür steht Eric, das sind die Eigenschaften, die ich am meisten an ihm bewundere.“
„Welchen Teil von Ihnen stellt der Berg dar?“
Charlie dachte einen Moment nach. „Das muss wohl mein inneres Ringen sein. Diese Therapie ist ja wie eine Bergbesteigung, und man könnte sagen, Eric ist in gewisser Weise mein Gefährte und Führer.“
Charlie schien sich durch diesen Traum ermutigt zu fühlen. Die Erkenntnis, dass seine Träume in perfekter Symbolsprache seine Arbeit an sich selbst wiedergaben, gab ihm eine sichtliche Befriedigung. Charlie war weit vorangekommen auf dem Weg der Veränderung, und darüber waren wir beide glücklich.

Viele Männer, die zu mir kommen, sind chronisch depressiv und unglücklich; sie schleppen sich durch ihr Leben und scheinen keine Vitalität zu haben. Die Homosexuellenbewegung würde sagen, dass sie voller Selbsthass sind, weil sie die Homophobie der Gesellschaft verinnerlicht haben. Oder auch, dass diese Männer sich chronisch leer fühlen, weil sie sich die Selbsterfüllung in einem männlichen Liebhaber versagen. Aber Charlie hatte jenen Vitalitätsmangel schon, solange er sich zurückerinnern konnte, und wusste, dass es mit seiner verlorenen Männlichkeit zu tun hatte.
Im Laufe einer Psychotherapie durchläuft jeder Klient auch Phasen der Verzweiflung. Ich versuche dann, ihm das neue Leben zu zeigen, das am anderen Ende des Tunnels auf ihn wartet. Ich stehe ihm zur Seite, während er die Schmerzen erduldet, die zur Heilung gehören, und immer wieder fragt, warum er nur so leiden muss. Es gab viele Monate, wo Charlie sich fragte, ob er diesen Berg jemals bewältigen würde.

Im letzten Jahr seiner Therapie kam Charlie in die Therapiegruppe, wo er sich durch bemerkenswert überlegte und tiefsinnige Beiträge auszeichnete. Bald war er so etwas wie eine Respektsperson; wenn er sprach, hörte jeder aufmerksam zu. Mit seiner klaren Ausdrucksweise und seinem weitsichtigen Durchblick stieg er zum allseits bewunderten Führer der Gruppe auf. Oft bestimmte er die Richtung, die die Gruppengespräche nahmen. Er gewann viele gute Freunde unter den Männern, denen er half, wenn sie in die Irre zu gehen drohten. Als er das letzte Mal mein Büro verließ, wusste ich: Ich bin nicht der einzige, der ihn vermissen wird.
Charlie Keenan veränderte sich in vieler Hinsicht. Er wollte durch die reparative Therapie vor allem eine Mitte, ein Zentrum in seiner eigenen männlichen Identität finden. Dadurch, so hoffte er, würden seine homosexuellen Neigungen zurückgehen. Nach nicht viel mehr als zwei Jahren konnte er mein Büro mit dem Gefühl verlassen, das erreicht zu haben, wofür er die Therapie begonnen hatte.

Quelle: Joseph Nicolosi, „Homosexualität muss kein Schicksal sein – Gesprächsprotokolle einer alternativen Therapie“, Kapitel 4, gekürzt. © 1995 Aussaat Verlag GmbH, Neukirchen-Vluyn. Originalausgabe © 1993 Jason Aronson Inc. New Jersey