Leiden einer Jugend

Ein Therapiebericht

Joseph Nicolosi

Der 16-jährige Edward hat homosexuelle Empfindungen und weiß nicht recht, wie er damit umgehen kann. Er hat einen distanzierten Vater, dessen Liebe er sucht und den er gleichzeitig verachtet. Der Artikel beschreibt die Anfänge seiner Therapie, in dem exemplarisch auch die Vater-Sohn-Problematik dargestellt wird.

Den 16jährigen Edward Paterson brachte seine Mutter zu mir, weil sie in seinem Zimmer einige homosexuelle Pornohefte gefunden hatte. Diese Entdeckung führte dann zu dem schmerzvollen Geständnis Edwards, dass er homosexuell sei. Verwirrt und aufgeregt bestand Mrs. Paterson darauf, dass er zu einem Psychologen ging. Mutter und Sohn bewohnten ein großes Haus mit Blick auf den Ozean in Pacific Palisades, während Edwards Bruder und Schwester bei Mrs. Patersons Ex-Ehemann in der Innenstadt von Los Angeles wohnten. Ihr Vater war ein bekannter Rechtsanwalt. Mrs. Paterson erschien in einem eleganten Leinenkostüm mit passender Krokodilledertasche und Schuhen. Ihr Händedruck war kräftig, ihre Art direkt. Sie stellte mir mit ernster Miene ihren Sohn vor, dann ging sie. Beim Hinausgehen drehte sie sich noch einmal um und sagte traurig: „Ich hoffe, Sie können ihm helfen, Dr. Nicolosi.“

Es ist gewöhnlich die Mutter, die das homosexuelle Problem des Sohnes erkennt, und viele Mütter wirken auf ihre Söhne ein, sich doch in eine Therapie zu begeben. Der Vater dagegen scheint das Problem oft gar nicht zu bemerken, und selbst wenn er es sieht, macht er sich selten für eine Therapie stark. Dass Edward so weiblich wirkte und er keine männlichen Freunde hatte, hatte seiner Mutter schon seit Jahren Sorgen gemacht. Schon mehr als einmal hatte sie gedacht, dass dies zur Homosexualität führen könnte. Edwards Vater war völlig überrascht, als er von den pornographischen Heften in Edwards Zimmer hörte.

Er tat mir leid, dieser Teenager, der mir da halb verängstigt, halb trotzig gegenübersaß. War er ein Junge oder ein Mann? Ed war eindeutig etwas von beidem. Sein dunkles Haar fiel in ein blasses, sensibles Gesicht. Er war schlank und etwas schmächtig, aber unter seinem weiten Sweatshirt machten sich eine beginnende männliche Brust und Armmuskeln bemerkbar. Er hatte Angst, so ganz allein mir gegenüberzusitzen. Nach ein paar Höflichkeiten kam ich zur Sache: „Also, Ihre Mutter hat Sie ja hierher gebracht, weil sie unglücklich über Ihre Homosexualität ist.“

Edward rutschte in seinem Sessel und lachte nervös.
„Wie sehen Sie das? Möchten Sie gerne anders werden? Oder soll man ihnen helfen, die Homosexualität anzunehmen?“ Er sah mich unsicher an, dann sagte er leise und langsam: „Tja, mit jemand darüber geredet hab ich eigentlich noch nicht viel. …“
Nach einer Pause fügte er hinzu: „Ich seh schon, dass die Homosexualität gesellschaftlich nicht so gern gesehen wird. Ich meine, schon aus dem Grund mag ich das nicht, schwul sein.“
„Aber Sie fühlen sich selber nicht motiviert, das zu ändern?“
„Nein, eigentlich nicht.“ Er lächelte verlegen.

Das ist das Grunddilemma des Heranwachsenden: einerseits der Wunsch, sein Leben auf einen gesunden Kurs zu bringen, andererseits das heftige Bedürfnis, intensive erotische Neigungen zu befriedigen. Anders als beim Erwachsenen, der nach etlichen Jahren der Auseinandersetzung mit der Homosexualität zu mir kommt und entschlossen ist, dieses Leben zu ändern, kann man vom Teenager nicht erwarten, dass er die sexuelle Befriedigung sublimiert, um auf ein Fernziel der Veränderung hinzusteuern – besonders, wenn der Zeitgeist ihm fleißig einredet, dass er seine Homosexualität annehmen müsse.
„Ich frage Sie deswegen“, sagte ich, „weil ich Ihnen nicht helfen kann, eine schwule Identität zu bekommen. Das ist nicht das, was ich tue. Wenn Sie das wollen, müssen Sie zu einem Psychologen gehen, der die Homosexualität bejaht.“
Er sah unsicher aus. „Ich weiß nicht. Wir haben ein Beratungsbüro für Homosexuelle in der Schule. Der Berater da hat mir ‚ne Menge Rat gegeben und einige schwule Bücher und Broschüren und mich so’n bisschen unter seine Fittiche genommen … Täte mich schon interessieren, inwiefern Sie anders sind.“
Edward sprach über Project 10, ein Angebot an staatlichen amerikanischen Schulen mit freiwilligen homosexuellen Beratern. Diese Programme, die ich sehr ablehne, verschweigen den Schülern, dass es Alternativen zur gelebten Homosexualität gibt. Die Botschaft ist: „Du wirst dich nie ändern, und deine einzige Möglichkeit ist, die homosexuelle Identität anzunehmen.“

Ich spürte, wie Ed verwirrt wurde. Er war schließlich nicht zu mir gekommen, um verschiedene Ideologien zu vergleichen. Ich beschloß, mich auf das zu konzentrieren, was er selber als seine Bedürfnisse sah.
„Ich verstehe gut“, sagte ich, „dass Sie sich sehr stark zu anderen Männern hingezogen fühlen und dass das sehr wichtig für Sie ist. Wie Sie diese Gefühle loswerden können, darüber wollen wir erst sprechen, wenn Sie das selber wollen. Wenn Sie möchten, würde ich Sie in den ersten ein, zwei Sitzungen gerne erst einmal kennenlernen und hören, wie Ihr Leben so läuft.“
Er nickte, offenbar erleichtert. Er sagte: „Mein größtes Problem gerade ist die Schule. Ich hab diese Schulangst.“
„Was ist das für eine Schulangst?“ fragte ich.
„Eigentlich alles. Ich weiß nicht … einfach alles.“ Er klang hilflos.
„Aber Ihre Mutter sagte mir, dass Sie eine Hauptrolle im Schultheater haben und auf der Ehrenliste des Schuldekans sind. Wie können Sie denn Angst vor der Schule haben, wenn Sie einer der besten Schüler sind und Leistungskurse belegen?“
„O, es ist nicht die Arbeit“, berichtigte er. „Ich bin einfach nervös, sobald ich das Gebäude betrete.“
„Nun, dann wollen wir mal genauer ansehen, was Sie an der Schule so nervös macht.“
Mein besorgter Ton schien ihn zu beruhigen. Zum ersten Mal in dieser Sitzung begann er sich zu konzentrieren.
„Ich weiß nicht. Einfach diese Angst, von jemand kontrolliert zu werden, vielleicht von den Lehrern. Mit anderen Sachen, wie der Theater-AG und so, hab ich keine Probleme.“
Er fuhr fort: „Die meisten Kids fühlen sich in der High School okay. Aber ich bin irgendwie anders.“
„Und was meinen Sie, warum Sie anders sind?“
„Ich … weiß nicht. Null Ahnung. Einfach so.“ Er sah mich hilflos an.
„Schön, lassen wir das mit den Gründen erst mal“, sagte ich. „Fangen wir mit Ihren Gefühlen an. Wie ist das?“
„Wie im Gefängnis. Alle schreiben sie mir vor, was ich tun muss.“
Ich hatte den Verdacht, dass das eigentliche Problem ein Mangel an menschlicher Unterstützung war. Ohne verständnisvolle Freunde, denen er seine Konflikte anvertrauen konnte, fühlte Ed sich einsam und entfremdet; er suchte seine Befriedigung in der schulischen Arbeit und versuchte, sich in Schauspielen selbst auszudrücken.
„Alles war besser als die Scheißschule“, sagte er selbstmitleidig.
„Wie, bitte? Alles wäre besser als mit Ihren Altersgenossen zusammenzusein?“
„Nun ja, bis auf die Theater-AG. Mit den Schülern da komme ich schon zurecht.“
„Vielleicht wollen Sie gar nicht mit den anderen zusammensein – vor allem den Jungen?“
Ed sah mich an. „Das stimmt“, sagte er feierlich. „Ich will mich nicht bei den anderen Jungs einordnen. Ich bin anders.“
Ed benutzte sein Interesse am Theater, um das aus seiner Homosexualität kommende Gefühl des Andersseins zu rechtfertigen. (,Ich bin zu künstlerisch und zu anders und zu besonders, um zu den anderen Schülern zu passen.’) Die Formel ‚Künstler und homosexuell’ sanktionierte seine Distanzierung von den „langweiligen“ heterosexuellen Jungen. Dies sollte in den frühen Therapiemonaten ein wiederkehrendes Thema werden.
„Und das ist das große Problem“, sagte ich. „Der größte Scheideweg auf Ihrer Lebensstraße. Vor dieser Entscheidung werden Sie für den Rest Ihres Lebens immer wieder stehen: ,Passe ich zur normalen Welt, oder will ich in der homosexuellen Welt bleiben?’“

Die Sprecher der Homosexuellenbewegung sind sich selber nicht im klaren darüber, wie sie dieses Problem angehen sollen. Die einen argumentieren, dass der Homosexuelle eigentlich genauso wie der Heterosexuelle ist, eben bis auf seine sexuelle Orientierung; andere behaupten, dass der Homosexuelle aufgrund seines ganzen Gefühlslebens außerhalb der konventionellen Gesellschaft steht.
Ich spürte, dass Ed diese Frage jetzt noch nicht angehen konnte – sie war zu abstrakt und auf die Zukunft gerichtet. Und die Uhr belehrte uns, dass die erste Sitzung auch bereits zu Ende war.
„Nun, Ed“, fragte ich, „haben Sie für immer genug von mir? Oder wollen Sie noch eine Sitzung versuchen?“
„Ich weiß nicht.“ Er zuckte die Achseln.
Ich wartete.
Er dachte eine Minute nach. „Also, einmal komm ich wohl noch. Ich will gern noch etwas mehr über meine Schulangst sprechen.“
In der nächsten Woche trottete Ed mit der gleichen Arme-Sünder-Miene in mein Büro wie bei der ersten Sitzung. Ich fragte mich, wieviel Schauspielerei dabei sein mochte. Da er von sich aus nichts zu sagen wusste, versuchte ich, ein Gespräch über die Beziehung zu seiner Mutter in Gang zu bringen. „Sie wohnen bei Ihrer Mutter, und Ihre Geschwister beim Vater. Wie kommt das?“
„Also, mein Bruder und meine Schwester sind älter, da sind sie zu meinem Vater gezogen; das ist so, als wenn man allein wohnt.“
„Mehr Freiheit?“
„Ja. Deshalb möchte ich auch gern zu ihm.“ Er lachte bitter.
„Mein Vater weiß nie, was los ist, der denkt nur an sein Anwaltsbüro. Er hat sich nie groß um uns gekümmert. Ich schätze, deshalb ist er pflegeleichter.“ Er klang angewidert.
„Ja, und es gibt noch einen Grund, weshalb ich ausziehen will. Ich will weg von meiner Mutter.“
„Warum?“
„Ich bin das ständige Kämpfen mit ihr leid.“ Eds Stimme war immer noch leise, aber entschlossener.
„Und was an ihr macht Sie so wütend?“
„Also, früher konnten wir wirklich gut miteinander. Vielleicht weil ich der Jüngste war, nahm Mutter mich überallhin mit. Wir waren immer zusammen. Viele Freunde hab ich wohl nie gehabt. Aber jetzt geht sie mir manchmal richtig auf den Geist.“ Er schwieg verbissen.
„Wie geht sie Ihnen auf den Geist?“
Er zuckte schweigend die Achseln.
„Nun kommen Sie, das ist wichtig! Wie geht sie Ihnen auf die Nerven?“ Eds Passivität fing an, mich aufzuregen.
Nach einer langen Pause sagte er: „Einfach… Sie ist einfach zu neugierig. Wir haben immer alles zusammen gemacht, ich meine, bis letztes Jahr haben wir uns nie gestritten.“
„Könnte es sein, dass der Konflikt kam, als Ihre sexuellen Gefühle erwachten, dass Sie dann Ihre Mutter weggestoßen haben?“
Er fuhr fort, als habe er meine Frage überhört: „Ich fühle mich so … ich weiß nicht, als ob ich furchtbar wütend auf sie bin, aber das gar nicht will.“
Dies war der typische Konflikt des Heranwachsenden, nur dass der homosexuelle Teenager ihn noch erheblich stärker empfindet. Ed liebte seine Mutter sehr, aber er verspürte das längst überfällige Bedürfnis, sich von ihr abzunabeln. Er spürte vielleicht unbewusst, dass die enge Mutterbeziehung zu seiner Homosexualität beigetragen hatte. Heterosexuelle Jungen machen sich von ihrer Mutter typischerweise viele Jahre eher selbständig.
„Gut“, sagte ich. „Wir müssen herausfinden, warum Sie wütend auf Ihre Mutter sind. Den Grund für Ihre Wut auf Ihren Vater kennen wir ja schon. Ihr Vater ist ineffektiv.“
„Was ist ‚ineffektiv’?“ fragte Ed.
„Nun, Ihr Vater hat wenig Effekt, wenig Wirkung auf Sie gehabt. Er war nicht richtig da, hatte keinen Einfluss.“
„Ja, ein richtiger Waschlappen.“ Seine Verachtung war deutlich zu hören.
Er fuhr fort: „Meine Mutter weiß nicht, was sie will. Die eine Woche behauptet sie, es wäre gut, wenn ich selber ein Auto hätte, die nächste Woche sagt sie, das ist zu gefährlich.“
„Ein Auto?“ fragte ich. Nun ja, in Amerika könnte Ed ab 16 ein Auto fahren.
„Ich hab gedacht, ein Auto würde das mit der Schule einfacher für mich machen. Mehr Freiheit und so, wissen Sie.“
„Aha. Also erst ermutigt sie Sie, und dann kommt die Enttäuschung.“
„Ja.“ Er klang erleichtert. „Sie macht mir immer ein schlechtes Gewissen.“
Hier hörte ich die Grundfrage seines Gefühls der Machtlosigkeit heraus. „Sie meinen, sie verwirrt und frustriert Sie?“
„Ja. Irgendwie weiß ich nie, ob ich ihr glauben kann. Gestern abend hörte ich, wie sie Vater anrief und sagte: ,Komm doch mal rüber und lade Ed zum Essen ein oder sonst was.’ Und dann kommt sie in mein Zimmer, und dann heißt es: ,Vater hat eben angerufen; er möchte dich zu einem Abendessen einladen.’ Ich dachte: Na, das ist aber komisch. Für so was ruft der doch sonst nie an.“
„Ich verstehe“, sagte ich.
„Ich geh also an den Nebenapparat und höre das Gespräch mit, und mein Vater sagt ihr: ,Beatrice, ich will aber nicht mit ihm ausgehen. Ich habe schon gegessen.’ Ich hab dann aufgelegt und meiner Mutter hat gesagt: .Vergiss es, mir ist heute abend nicht nach Ausgehen zumute.’“
„Aber den Grund haben Sie ihr nicht gesagt?“
„Nein. Was hätte das auch gebracht?“
„Nun, anstatt Ihren Ärger offen auszudrücken oder ihr zu sagen, dass Sie sich manipuliert vorkommen, schmollen Sie. Und dann fragen sich Ihre Eltern natürlich: ,Warum ist der Junge so still? Was hat er nur?’“
„Jetzt, wo ich daran denke … Solche Sachen sind auch passiert, als ich klein war. Mutter sagte: ,Vater fährt jetzt mit euch nach Disneyland’ oder so. Und wir fuhren auch, aber den ganzen Tag war Vater schlecht drauf, als ob er eigentlich gar nicht dabeisein wollte.“
„Richtig“, sagte ich aufmunternd.
„Da hatte sie ihn wahrscheinlich auch so bearbeitet.“
Ich kannte dieses Muster von so vielen meiner homosexuellen Klienten: ein manipulatives Kommunikationsverhalten in der Familie, das dem Kind keine andere Wahl lässt, als sich in ein schützendes Schneckenhaus zurückzuziehen.
„Alles muss sie bestimmen“, sagte Ed hilflos.
Er hielt traurig inne. „Aber sie meint es schon gut. Sie macht all die Dinge, die eine Mutter so tut, kocht mir ein gutes Essen, nimmt mich zur Kirche mit und all das. Aber irgendwie übertreibt sie das alles, sie ist zu …“ Die Worte fehlten ihm.
Er dachte eine Minute nach und fuhr dann fort: „Irgendwie bringe ich es nicht fertig, über was Persönliches mit ihr zu reden. Sie sagt zum Beispiel, richtig nett: ,Eddie, was für ein Auto hättest du denn gern?’, und ich werde einfach eingeschnappt. Manchmal denke ich auch: ,0 Gott, was bin ich blöd, sie will doch nur nett zu mir sein!’“

Der Vater kümmert sich zu wenig um ihn, die Mutter zuviel, dachte ich. Ich sagte: „Dieses Gefühl, dass Sie sich so bevormundet vorkommen, werden Sie auch auf die Mädchen übertragen, die Sie kennenlernen. Wenn ein Mädchen Ihnen zu nahe kommt, dann drücken Sie es weg.“
„Ja“, sagte er. „Komisch, dass Sie das erwähnen. Letztes Jahr war ich ziemlich beliebt und hatte eine Menge Freundinnen und so. Aber wenn ein Mädchen anfing, mich zu sehr zu mögen, dann wurde ich richtig grob – wie bei meiner Mutter.“
„Genau. Zunächst einmal haben Sie Angst, dass sie Romantik von Ihnen erwartet. Aber vor allem wollen Sie nicht in die gleiche Situation rutschen wie bei Ihrer Mutter – dass Sie sich von ihr manipuliert vorkommen und für ihre Gefühle verantwortlich sind.“
Edward hatte nervös nach unten geblickt. Jetzt sah er mich an, ganz überrascht.
Ich wusste, dass ich einen Konflikt freigelegt hatte, den die meisten Homosexuellen kennen. „Als kleiner Junge hatten Sie die Aufgabe, Mama glücklich zu machen, wenn sie traurig war. Und dieses Gefühl, für die Gefühle Ihrer Mutter verantwortlich zu sein, übertragen Sie auf die Beziehungen zu den Mädchen, die Ihnen zu nahe treten. Sie fühlen sich unbewusst von den Gefühlen und Erwartungen des Mädchens betroffen. Das kommt Ihnen unangenehm bekannt vor – es ist die alte Falle, in der Sie Ihre eigenen Bedürfnisse verleugnen müssen.“
Edward nickte langsam.
„Und dann sind Sie auch deswegen grob zu Mädchen, weil in Ihnen selbst schon soviel Weibliches steckt. Sie fühlen sich mehr durch das Männliche angezogen, das Ihnen fehlt.“
Er wechselte das Thema. „Ich hab gerade am Sommertheater meine Sprechprobe gemacht, für ‚Oklahoma!’. Ich versuche, die Hauptrolle zu kriegen – Curly zu spielen.“
„Ihre Vorliebe für das Theater ist auch kein Zufall“, sagte ich. „Als Schauspieler können Sie sich verstecken. Sie wollen ein Künstler sein, jemand, der über den normalen Männern steht. Das Theater ist ein Mittel, das falsche Ich aufrechtzuerhalten.“
Ich blickte auf die Uhr. „Aber jetzt wird es Zeit, dass wir für heute zum Ende kommen. Möchten Sie noch einen Termin, oder habe ich Ihnen schon zuviel erzählt?“
Ed sagte: „Ich muss mal sehen, wann ich zu den Proben muss.“
„Denken Sie daran: Ob und wann Sie weitermachen, liegt ganz bei Ihnen.“
„Ich weiß.“ Er lächelte schwach, als ob er es genoss, ausnahmsweise der Bestimmer zu sein. Schließlich sagte er: „Ich komme dann nächste Woche wieder, zur gleichen Zeit, okay, Doc?“
Ed sah das Problem nicht in seiner Homosexualität. Sie war für ihn ein unbekanntes nebelhaftes Etwas, an das er sich nicht heranwagte, weil er nicht wusste, wie er das anstellen sollte. Er zog es vor, von seinen Schul- und „Beziehungsproblemen“ zu sprechen.

Der Fall Edward hatte Aspekte, die wohl für jeden Heranwachsenden zutreffen. Aber er kämpfte auch mit einer Reihe von Problemen, die für den homosexuell orientierten Heranwachsenden typisch sind: 1. Wut auf einen ineffektiven, distanzierten Vater; 2. Wut auf eine aufdringliche, verwirrende Mutter; 3. Vermeiden der Gleichaltrigen (vor allem der Männlichen); 4. schauspielerische Interessen als Ausflucht vor zwischenmenschlichen und Identitätsherausforderungen; 5. Autoritätsprobleme –Angst vor der Schule und ihren Vertretern; 6. eine Überlegenheitshaltung als Kompensation eines männlichen Minderwertigkeitsbewusstseins.
Ed kam regelmäßig und beantragte bald zwei Sitzungen pro Woche, weil seine Eltern ihn „verrückt machten“. Nach dem ersten Therapiemonat kam er eines Nachmittags herein, setzte sich und sah mich sehr ernst an. Sein gleichgültiges Gehabe der ersten Sitzung hatte er fast völlig abgelegt.
„Die letzte Zeit bin ich so wütend auf meinen Vater.“
„Sicher.“ Ich wollte ihn beruhigen; es war ja kein Verbrechen, wenn er diesen lebenslangen Groll zugab.
Er sagte: „Ich meine, wirklich wütend – die letzten Wochen.“
„Klar.“ Ich versuchte wieder, beruhigend zu klingen.
„Er … er ist so …“ Ed fand die Worte nicht.
Ich wartete. Er fuhr fort: „Dieses ganze Theater mit dem Auto. Meine Eltern waren schon beide dafür, aber dann haben sie in der letzten Minute doch wieder ‚nen Rückzieher gemacht. Mein Vater hat gesagt: ,Halt ihn bei Laune, bis wir eine Ausrede finden’ und so. So hat meine Mutter es mir erzählt.“
„Und wie fanden Sie das?“
„Mein Vater bringt laufend so was, und nachher streitet er alles ab. Kürzlich hab ich an die dreißig CDs gekriegt, die ich aus einem Clubkatalog bestellt hatte. Ich habe kein Geld, sie zu bezahlen, und da sagt mein Vater: ,Dann zahl eben einfach nicht, die können dir nichts, du bist ja noch minderjährig.’
Und dann kommt meine Mutter und sagt: „– seine Stimme wurde schrill – ,Edward, was wird das denn jetzt? Das ist schon die zweite Mahnung! Zahlst du das jetzt, oder nicht?’ Und ich: ,Also, wozu denn? Papa hat mir gesagt, ich brauch das gar nicht.’ Dann kriegt Mutter ihren Anfall und will ihn ausschimpfen, und er streitet natürlich alles ab. Und anschließend sagt er mir: ‚Warum musst du auch Mutter sagen, dass ich das gesagt hätte?’ Ich sag ihm: ,Na, weil du es gesagt hast.’ Und er: ,Komm, das hab ich niemals gesagt!’
Ich glaub, dass er noch nicht mal …“ Er brach ab und fuhr fort: „Wenn ich mit ihm rede, wissen Sie, denk ich oft: Prima, er hört mir zu. Aber am nächsten Tag hat er alles wieder vergessen.“ Eds Stimme war weinerlich geworden, seine Schultern hingen nach unten.
„Er nimmt Sie einfach nicht ernst, nicht wahr?“ sagte ich.
Ich sah deutlich, warum Edward so regelmäßig kam – vor allem deshalb, weil ich ihn ernst nahm.
Nach einer langen Pause sagte er: „Ich hab meiner Mutter gesagt, dass ich ihn nicht mehr besuchen will, weil es ja doch keinen Zweck hat. Ich meine, wenn ich dann komme, muss er entweder wieder auf das Gericht oder seine Freundin ausführen.“
„Warum gehen Sie denn überhaupt?“ fragte ich.
„Ich weiß nicht. Es ist nicht so sehr, dass ich ihn hasse, ich will einfach nicht bei ihm sein.“
„Schön“, sagte ich. „Und warum weichen Sie ihm aus?“
Er lehnte sich zurück, zuckte die Achseln und sagte einfach: „Er versteht mich eben nicht. Ich bin einfach anders als er.“

Ich holte tief Luft, wie man das zu Beginn eines langen Vortrags tut. Ich hasse es, Vorträge zu halten, vor allem bei einem 16jährigen, der schon deutlich gemacht hat, dass er einen Hass dagegen (oder Angst davor) hat, wenn ihm jemand etwas sagt. Aber ich wollte ihn einfach aus seiner selbstgefälligen Passivität herausschütteln.
„Sie denken, Sie seien etwas Besonderes. Aber die meisten Leute mit einem homosexuellen Problem haben die gleiche Angst und Wut gegenüber männlichen Autoritätsfiguren und fühlen sich unverstanden. Denken Sie daran, dass Ihre ersten Autoritätsfiguren – Ihre Eltern – Sie enttäuscht haben. Sie haben Sie verletzt und im Stich gelassen, und Sie können ihrer elterlichen Autorität nicht vertrauen.
Das gilt besonders für Ihren Vater, der sich doch, weil er erwachsen ist, um Sie kümmern und Ihnen Stärke geben sollte. Wie können Sie seiner väterlichen Autorität trauen, wenn er Sie dauernd enttäuscht? Sie sehen also: Sie sind gar nicht etwas so Ungewöhnliches oder Besonderes.“

Ich wusste: Ich mutete Ed einiges zu mit diesen Worten. Aber Ed begann einzusehen, dass das homosexuelle Gefühl ,Ich bin anders’ eine defensive Funktion hat. Ich erklärte ihm, dass er sich in diese Phantasiewelt des Andersseins und Besondersseins zurückzieht, um damit seine Weigerung, anderen Jungen als Gleicher unter Gleichen zu begegnen, zu rechtfertigen. Auf diese Weise kann er andere Männer genauso ablehnen wie seinen Vater und sich auf den privilegierten, behüteten Platz neben seiner Mutter zurückziehen. Doch gleichzeitig nimmt er es seiner Mutter übel, dass sie es ihm erlaubt, der Inanspruchnahme seiner Männlichkeit und der zu dieser gehörenden inneren Kraft auszuweichen.

Ich erklärte Ed weiter, dass dieses Gefühl des Besondersseins wahrscheinlich auf seine frühe Kindheit zurückging, auf die Geschlechtsidentitätsphase, als er zum ersten Mal der männlichen Identifikation auswich. Damals bereits beschloss er, den Aufgaben der Individuation und Trennung und Selbständigkeit von seiner Mutter auszuweichen. Mit diesem Ausweichen aber hatte er einen großen Teil der für die Entwicklung seiner Männlichkeit unabdingbaren Persönlichkeitskraft aufgegeben. Kurz: Das Gefühl ,Ich bin anders’ war ein nützlicher Verteidigungsmechanismus, der es ihm erlaubte, der Aufgabe der Inanspruchnahme seiner Männlichkeit und inneren Kraft auszuweichen.
Ed sass hochaufgerichtet da und hörte aufmerksam zu. Als ob er erleichtert war, von der Last des Besondersseins befreit zu sein, sagte er: „Dann sind wohl all diese Sachen, die ich gar nicht mit der Homosexualität verbunden hab, wie das Schauspielern, das mit der Autorität und so – dann hängt das ja alles zusammen.“
„Sie haben das bisher alles für sich behalten und bei niemand rausgelassen. Sie können jetzt dieses Gefühl, anders zu sein, noch verstärken, oder Sie können daran arbeiten, ein normaler Typ zu werden, und lernen, mit Gleichaltrigen umzugehen. Es ist also wirklich kein Zufall, dass Sie das Theater so mögen, denn dort können Sie diesen Alltagsproblemen ausweichen.“
Edward sah verwirrt aus, dann ärgerlich. „Also, wenn ich gerade so bin wie die anderen auch und gar keine besonderen Probleme hab, was bringt es dann, dass ich weiter hier zu Ihnen komme?“
Ich hörte seine Folgerung heraus: „Wenn ich nicht jemand Besonderes bin, wer bin ich dann?“ Ich beschloss, diese Frage zunächst nicht anzusprechen, sondern die Diskussion praktisch zu halten.
„Es gibt zwei mögliche Motive für Sie, die Therapie weiterzumachen“, sagte ich. „Erstens, die Wunden und die Verwirrung in Ihrem Leben zu lindern, und zweitens, zu versuchen, Ihre heterosexuelle Seite zu entwickeln.“
Er seufzte. „Was ich will – das zu wissen ist schwer.“ Eine lange Pause. „Ich glaub, ich will schon meine heterosexuelle Seite entwickeln, aber ich hör so viele andere Dinge – die Leute sagen mir, ich muss schwul sein, damit ich ich selbst sein kann, und so.“
„Und das werden Sie noch öfter hören. Die Homosexuellenwelt gibt Ihnen völlig andere Antworten. Aber denken Sie an diese fundamentale Tatsache, Ed: Wenn Sie gar nichts tun, sich einfach treiben lassen – dann werden Sie homosexuell.“
„Also, im Augenblick“, sagte Ed, „würde ich erst mal gern lernen, wie ich mit meinem Vater zurechtkommen kann.“
Ich nickte. Der Vater, dachte ich. Wie oft schon hatte ich diese Aussage von meinen Klienten gehört. Wie oft geht es im Wesentlichen um Probleme mit dem Vater.

Nach dieser Sitzung mit Edward ging ich in Urlaub. Als wir uns drei Wochen später, an einem verregneten Montag, wieder sahen, sah Edward richtig traurig und entmutigt aus. Er schüttelte seinen Mantel ab, warf den klatschnassen Regenschirm neben sich auf den Teppich und ließ sich in den Sessel fallen.
„Also, ich bin gar nicht so glücklich über diese homosexuellen Gefühle.“
„Was ist denn passiert?“
„Sie wissen ja, wie einsam ich bin, weil ich doch keine Freunde habe. Vor ein paar Wochen gehe ich allein durch den Park und sehe diesen älteren Typ – so in Ihrem Alter –, mit dem kam ich ins Gespräch. Ich dachte: ,Der ist vielleicht schwul’, denn er war, naja, ein bisschen zu freundlich. Wir unterhielten uns etwas – er hieß Jason – und tauschten unsere Telefonnummern aus, und am Abend rief er mich an: Ob ich Lust hätte, mir einen Film anzusehen.
Dann lud er mich zu einer Party ein, und das war ‚ne richtige Schwulenparty, lauter Männer, die meisten in seinem Alter.“ Ed lachte bitter. „Die beste Party, auf der ich je war. Ich war der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.“
„Und damit kriegten Sie das, was Sie bei den normalen Jungen in der Schule nicht gekriegt hatten. Das macht die Homosexuellenszene ja so attraktiv: man gehört sofort dazu.“ Edward lachte, aber sein Gesicht war nicht glücklich. „Ich weiß. Bei den anderen ist das so schwer, da bin ich nichts Besonderes.“
„Gut, und was geschah dann?“
Er klang verlegen. „Tja, eigentlich wollte ich das gar nicht, aber es wurde dann sexuell. Ich wollte, er wäre einfach lieb zu mir gewesen, ein guter Freund. Er hätte mir ja vielleicht das Haar zerzausen können oder mich umarmen, oder so…“ Er lachte verlegen., „Aber er hat mich also massiert, und dann … dann kam eins zum anderen.“
„Aha.“
„Er hat mich schon ziemlich interessiert. Aber dann rief er mich am nächsten Tag wieder an und sagte, dass sein früherer Liebhaber, Harold, ihn gebeten hatte, wieder zu ihm zurückzuziehen. Jason sagte, das machte nichts und würde nichts an unserer Freundschaft ändern.“
„Und ist er noch Ihr Freund?“
„Tja, am Freitagabend bat Jason mich, ihm zu helfen, sein Zeug in Harolds Wohnung zu bringen, und Harold war sehr nett zu mir. Er lud mich zu ‚ner Pizza ein und sagte, er wollte auch mein Freund sein. Ich wollte Jason nicht verlieren, und da hab ich mitgemacht. Wir gingen dann zurück in ihre Wohnung, und sie legten ‚nen Pornofilm ein. Und dann zogen Jason und Harold mich aus und…“
„Und was dann?“
Er wurde rot. „Und dann… haben sie sich bei mir mit Blasen abgewechselt. Ménage à trois, nannte Jason das.“ Ed versuchte, französisch zu klingen, und grinste mich verlegen an. „Danach haben sie beide gesagt, dass sie beide mich lieben, dass ich gern zu ihnen ziehen könnte und dass wir drei zusammen viel Spass haben könnten.“
Nach einer langen, stillen Pause fragte ich ihn: „Und haben Sie das bekommen, was Sie wollten?“
Ed klang müde. „Nein. Ich wollte doch nur etwas Freundschaft – Zuneigung. Ich hab dann Harold und Jason gesagt, dass ich da nicht mitmachen kann.“
Edwards Geschichte ist eine gute Illustration der betrügerischen Verlockungen, die in der homosexuellen Welt so häufig sind. Wie oft werden junge Männer wie Edward, die so nach männlicher Aufmerksamkeit, Zuwendung und Bestätigung hungern, sexuell verführt, in die Irre geführt oder fallengelassen.
Ich erklärte Edward: „Da geht toll was ab, und das ist für einen jungen Mann wie Sie sehr attraktiv. Sie werden dort sofort beachtet – das ist, als wenn ein Traum wahr wird. Jedenfalls eine Zeitlang.“
Ich fuhr fort: „Aber wie sieht es mit Ihren Freundschaften mit normalen Jungs aus? Hat sich da was getan?“
„Ich hab Angst, Freundschaften anzuknüpfen. Ich bring das nicht fertig, einfach jemanden anzusprechen. … Der denkt womöglich, ich will was von ihm.“
Das ist das verworrene Denken der Homosexuellenszene. Diese sexuellen Beziehungen sind ja gar keine Freundschaften. Homosexuelle können Freundschaft und Sexualität nicht voneinander trennen. Auch Edward hatte hier seine Schwierigkeiten. Er musste lernen, bewusst zwischen Freundschaft und Sex zu unterscheiden. Er projizierte seine eigene Verwirrung auf die heterosexuellen Jungen, mit denen er Freundschaften anzuknüpfen versucht hatte.
„Ein normaler junger Mann denkt doch nicht, dass Sie ihn anmachen, wenn Sie sich nett mit ihm unterhalten! Für ihn sind Männerfreundschaften überhaupt nicht sexuell.“ Bevor Ed antworten konnte, fuhr ich fort: „Es ist vollkommen in Ordnung, wenn man beachtet werden will – aber Sie wissen nicht, wie man das richtig macht. Sie müssen mit diesen normalen Jungen, die Sie nett finden, sprechen! Dann werden sie real. Solange Sie nicht mit ihnen reden, bleiben sie für Sie Objekte – überzeichnete Puppen. Wenn Sie sich weiter so isolieren, werden Ihre erotischen Gefühle noch stärker werden. Das sexuelle Interesse verstärkt sich, wenn man allein und einsam ist.“
Ed nickte nachdenklich.
„Sie können gerne in meine Gruppe kommen – sie trifft sich immer montagabends – und dort den Männern zuhören, die früher einen homosexuellen Lebensstil hatten und ausgestiegen sind. Es wäre gut, wenn Sie sich mal anhören, wie das bei denen war.“
Er stimmte zu. ,Ja, ich würd gern diese Gruppe und die Jungs mal kennenlernen. Ich bin bereit, mich mit meiner Homosexualität auseinanderzusetzen.“

In diesem Frühling schloss Ed die High School ab und begann seine Sommerferien. Sein Problem mit der Schulangst verblasste, und er arbeitete weiter an seinen Vaterproblemen und seinem Bedürfnis nach Männerfreundschaften.
Bald bekam er einen guten Kontakt zu Männern in der Gruppe, besonders zu Charlie. Ed war etliche Jahre jünger als die anderen, aber er konnte gerade von diesen Männern, die den homosexuellen Lebensstil schon voll ausprobiert hatten, viel lernen. Und zum ersten Mal in seinem Leben konnte er ehrliche, vertraute, nicht-sexuelle Beziehungen zu Männern aufbauen, die seine Versuchungen verstanden.

In den nächsten paar Wochen erlebte Ed nichts Besonderes – nur die üblichen Höhen und Tiefen eines mit der Homosexualität kämpfenden Heranwachsenden. Im großen und ganzen ging es ihm viel besser.
Doch dann erzählte er mir, dass es im Laufe des Sommers immer schwieriger mit seiner Mutter wurde. Neulich war er kurzerhand mit dem Fahrrad zu seinem Vater gefahren, einfach um weg von ihr zu kommen. Dieses Hin- und Herpendeln zwischen Mutter und Vater symbolisierte ein typisches Dilemma des homosexuellen Jugendlichen, der sich zwischen den Mühlsteinen einer überbehütenden Mutter und eines gleichgültigen Vaters gefangen sieht.
„Am Samstagabend hatte ich nichts zu tun, und da hab ich mir mit Mutter einen Horrorfilm angesehen. Die große Langeweile, aber ich hatte nichts Besseres. Als ich wieder zu Hause war, war ich richtig down. So viele Samstagabende verbringe ich am Ende mit meiner Mutter.“
„Warum schaffen Sie sich dann nicht ein paar gute Freunde an, mit denen Sie was unternehmen können?“
Mit seinem hilflosen Kleiner-Junge-Blick antwortete er: „Weil ich keine Freunde finden kann.“
„Keine Freundschaften schließen können“, verbesserte ich.
Ed sah mich hilflos an.
„Hmm, haben Sie schon mal die Geschichte mit dem Käsebrot gehört?“
„Käsebrot?“ Er schüttelte den Kopf.
„Also, da waren zwei Männer, die jeden Tag in der Mittagspause zusammen assen. Am ersten Tag wickelt der ältere Mann sein Butterbrot aus: Rinderschinken mit sauren Gurken und grünem Salat. Der Jüngere öffnet sein Paket: ein Käsebrot. Am zweiten Tag holt der Ältere eine Kreation mit Lachs und Waldorfsalat aus seiner Tüte. Sein Kollege: ein Käsebrot. Am dritten Tag kommt aus der Tüte des Alteren ein Riesenvollkornbrötchen mit Tomaten, Zucchini, Eissalat, Paprika und Oliven zum Vorschein. Der Jüngere öffnet seine und ruft aus: ,Mist, schon wieder Käsebrot!’ Darauf fragt ihn der Altere: ,Warum bittest du nicht deine Frau, mal was anderes zu machen?’ ,Welche Frau?’ sagt der Jüngere. ,Ich mach mir meine Brote selber!’“
Edward lächelte.
„Also, Sie wollen nächsten Samstag nicht wieder mit Ihrer Mutter ins Kino?“
„Nein.“
„Sie haben Ihre Mutter als Ersatz für eine Freundschaft mit gleichaltrigen Jungen benutzt. Machen Sie ein paar Pläne, rufen Sie einen Freund an. Und warten Sie nicht bis zur letzten Minute! Sie haben sich genug Käsebrote gemacht!“
Edward wechselte etwas irritiert das Thema: „Gestern ist mir dieses Mädchen begegnet, neben dem ich oft in der Schule gesessen hab. Sie fragte mich, ob ich mit ihr ins Einkaufzentrum gehen würde, um ein paar Kleider umzutauschen, die sie gekauft hatte.“
„Und sind Sie mitgegangen?“
„Naja, ich hab mich rausgeredet. Ich möchte nicht so gern wieder mit den Leuten zusammensein, die mich von der High School her kennen und die mich für nicht besonders männlich halten, wissen Sie. Wenn ich mich jetzt bei diesem Mädchen auf einmal anders benehme, denkt sie vielleicht, ich tue nur so.“ Er zögerte und wog seine Worte ab. „Tatsache ist, dass sich in der letzten Zeit ‚ne Menge geändert hat bei mir. Ich sehe mich jetzt anders. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, mit einem Mädchen zum Kleiderumtausch mitzugehen. Und ich glaub nicht, dass sie es verstehen würde, dass ich das jetzt anders sehe.“
Ich nickte. „Unsere Freunde und Verwandten haben ein persönliches Interesse daran, dass wir uns nicht ändern. Ihre alten Schulfreunde werden sich gegen einen neuen, reifer werdenden Edward wehren.“
„Ich hab einfach nicht mehr soviel übrig für Mädchen – ihren Klatsch und das ganze Zeug. Ich fühl mich nicht mehr wohl dabei.“
Ich erklärte: „Sie fangen jetzt mit dem an, was Sie als Junge ausließen – die Ablehnung von Mädchen in der Latenzphase, der Mädchen-sind-blöd-Phase.
„Ja. ,Mädchen sind eklig‘ – ich weiß. Diese Phase hab ich nie gehabt.“
Ich fuhr fort: „Diese ganze Therapie dreht sich darum, Sie aus Ihrer defensiven Distanz gegenüber Männern herauszuholen. Vergessen Sie nicht: Als kleiner Junge beschlossen Sie, bei Mama zu bleiben und Papa auf Distanz zu halten. Sie sahen ihn an und sagten: ,Ich brauche dich nicht, ich will dich nicht, ich traue dir nicht.’ Und das gleiche sagten Sie den Jungen, zu denen sie hätten gehören sollen. Sie mieden sie, gingen auf Abstand zu ihnen – und später versuchten Sie dann, diese Entfremdung durch Sexualität zu durchbrechen.“

In der folgenden Woche kam Ed mit einem Triumphlächeln hereingesprungen. „Ich hab die Rolle gekriegt!“
„Welche Rolle?“
„Im Sommertheater. Ich werde Curly in ‚Oklahoma!’ sein.“
„Gratuliere!“
„Kann sein, dass die Proben sich mit meinen Terminen hier beißen. Wahrscheinlich muss ich da jeden Tag hin.“
„Ich freue mich echt, dass Sie so glücklich sind, Sie müssen natürlich selber entscheiden, was Ihnen gerade am wichtigsten ist. Vergessen Sie nur eines nicht: Wenn die Show vorbei ist und der Vorhang sich senkt, dann …“
Ed nickte und sagte ernst: „Ich weiß. Dann werde ich immer noch die gleichen Probleme haben.“
Trotz seines anstrengenden Probenstundenplans schaffte Ed es, weiter zu unseren wöchentlichen Sitzungen und auch zu den Gruppentreffen zu kommen.
Eines Morgens überraschte er mich mit der Frage, ob er das nächste Mal seinen Vater mitbringen könne. Ich begrüßte diese Idee. Aber ich musste Ed erklären, dass es keinen Sinn haben würde, seinem Vater eine Liste von Klagen vorzubeten. Bevor ich seinen Vater einlud, musste Ed genau wissen, was er von ihm wollte. Eine „Klagesitzung“ mit seinem Vater würde auch nur sein Gefühl, ein hilfloses Opfer zu sein, noch verstärken. Nun, Ed versprach, es statt mit Klagen mit Kommunikation zu versuchen – und auch, zwischen den Vater-Sohn-Terminen weiter zu Einzelgesprächen zu kommen.

Jetzt konnte ich endlich Dennis Paterson kennenlernen. Eds Vater war ein hochgewachsener, gutaussehender Mann; zu seinem Termin trug er einen grauen Nadelstreifen-Maßanzug und eine schimmernde orangene Seidenkrawatte. Er schüttelte fest meine Hand und sprach kräftig und direkt – wie jemand, der es gewohnt war, das Sagen zu haben.
Er begann mit der Bemerkung, dass er für unsere Sitzung einen wichtigen Termin gestrichen hatte.
Ed, der neben seinem Vater fast schon zerbrechlich aussah, setzte sich steif auf eine Couch ihm gegenüber. Er sah besonders kindlich und unsicher aus.
Ich bat Vater und Sohn, sich doch auf die beiden Enden einer anderen großen Couch zu setzen und sich zueinander hinzudrehen, um so miteinander zu sprechen. Beide lachten nervös und fühlten sich sichtlich nicht wohl in ihrer Haut. Ed klemmte ein riesiges Kissen wie einen Schutzschild vor seine Brust.
Sie tauschten ein paar oberflächliche Neckereien aus, und ich merkte, dass Vater wie Sohn eine echte Sehnsucht nach Herzlichkeit und Wärme hatten, aber Angst hatten, dies nach so vielen Jahren der gegenseitigen Frustration zu zeigen. Dennis Paterson wollte sichtlich die Beziehung verbessern, aber seine direkte, nachdrückliche Art schien Edward, der in seinen Äußerungen eher zu Vagheit und Indirektheit neigte, nur noch mehr zu hemmen. Der Komm-zur-Sache-Stil seines Vaters machte ihn völlig nervös.

Meine Erfahrungen mit Vater-Sohn-Sitzungen haben mir gezeigt, dass die Väter typischerweise auf der rein sachlichen Ebene steckenbleiben und den Ausdruck von Gefühlen vermeiden. Und die Söhne, die froh sind, dass überhaupt eine Kommunikation zustandekommt, erlauben es ihren Vätern, auf dieser oberflächlichen Ebene zu bleiben. Ich spürte, dass Ed gern mehr an Gefühlsausdruck von seinem Vater gehört hätte. Mr. Paterson rutschte häufig in langatmige Vorträge über das Leben, den Beruf und sein Lieblingsthema, die Selbstdisziplin, hinein. Er sprach wie bei einem Schlussplädoyer vor einer Jury. Ed, der die ganzen alten Klischees auswendig kannte, war sichtlich enttäuscht und schaltete völlig ab. Ich versuchte, das Gespräch aus der Sackgasse herauszubringen. „Ed, was meinen Sie – wie sieht Ihr Vater Sie?“
Ed zuckte die Achseln. Er schien zwischen Hoffnung und Angst festgefahren. Er brachte keine Antwort heraus.
Endlich sprach er doch, in einer gefühlsgeladenen Jungenstimme: „Manchmal weiß ich nicht, worauf du überhaupt hinaus willst, Dad.“
Dennis Paterson antwortete verteidigungsbereit: „Nun, Eddie … was willst du denn von mir?!“
Das ist deine Chance, Ed! dachte ich. Jetzt oder nie.
Ich wusste, was Ed wollte. Wir hatten in unseren Einzelgesprächen Wort für Wort eingeübt, was er jetzt sagen würde. Aber er brachte keine Antwort über die Lippen.
Lange Zeit sass das ungleiche Paar still und steif da, im Hintergrund tickte die Uhr.
Mr. Paterson versuchte auf seine Art durchaus, zu seinem Sohn durchzudringen, aber seine Predigten über die Selbstdisziplin ließen keine wirkliche Kommunikation aufkommen. Eds Standardverteidigung gegen die väterlichen Vorträge war das Ergreifen der Gegenposition – er wollte mehr Freiheit. Aber es ging hier gar nicht um Freiheit. Was Ed wirklich wollte, aber nicht aussprach, war die Liebe und Annahme seines Vaters.

Vier gemeinsame Sitzungen vergingen. Jedesmal schienen Vater und Sohn beide völlig unvorbereitet zu sein, als hätten sie sich überhaupt nicht überlegt, worüber sie überhaupt sprechen wollten. Ed verriet mir, dass sie buchstäblich schweigend zu meinem Büro fuhren, als hätten sie sich nichts zu sagen. Und wenn sie während der Sitzungen einmal emotional in Berührung kamen, war es nur für einen Augenblick und sie flüchteten sich rasch auf das vertraute Territorium der nutzlosen Diskussion über Freiheit und Selbstdisziplin.
Ich spürte eine Angst. Beide wussten, dass unter der Oberfläche Schmerz und Zorn versteckt lagen. Es war gerade so, als wenn sie beide wussten: „Wenn wir ehrlich miteinander reden, werden wir beide wütend werden.“
Die heimliche Eminenz bei diesen Sitzungen war die Mutter. Sohn wie Vater erwähnten immer wieder, was „Mutter“ oder „sie“ meinte. Wie das in Familien, die einen homosexuellen Sohn hervorbringen, typisch ist, hatte sie ihre Rolle als Mutter/Interpretin in der Vater-Sohn-Beziehung zu intensiv gespielt. Ich fand es schließlich das beste, meine Irritation nicht zu verstecken, und stellte die Regel auf: „Kein Wort mehr über Mutter! Es geht hier um Sie beide – direkt.“
Ich versuchte, an der Abwehrhaltung des Sohnes und der Kreuzverhörmethode des Vaters vorbei unter die Oberfläche hinunterzukommen. Das Thema „Homosexualität“ wagte ich nicht anzuschneiden, zu einem Gespräch darüber waren offensichtlich beide nicht reif. Aber es war doch da, wie ein lastender Schatten im Hintergrund.

Ich versuchte, Mr. Paterson dazu zu bringen, seine Vorträge zu lassen und über seine Beziehung zu Ed zu sprechen, aber er unterbrach mich ständig. Er wusste sichtlich nicht, wie er seinen Sohn erreichen konnte. Ich hörte den beiden zu und fühlte so viel Unausgesprochenes. Zum ersten Mal spürte ich etwas von Dennis Patersons schmerzlichem Gefühl, als Vater versagt zu haben.
Ich wusste, dass meine Tage mit Dennis Paterson gezählt waren. Er würde seine beruflichen Termine nicht noch viel länger für uns verschieben, und ich spürte seine wachsende Frustration.
Meine Erfahrungen mit Vätern und ihren homosexuellen Söhnen haben mich gelehrt, keine Wunder zu erwarten. Als Ed und sein Vater zu ihrer fünften Sitzung erschienen, beschloss ich daher, ihnen einen kräftigen Schubs zu geben, bevor Eds Vater die Therapie wieder verließ. Etwas sollten sie doch wenigstens mitnehmen können!
In unseren Einzelsitzungen konnte Ed sich klar und flüssig ausdrücken, aber gegenüber seinem Vater war er wie blockiert. Ich beschloss, das, was die beiden bestimmt schon seit einiger Zeit fühlten, in Worte zu kleiden.
„Ich weiß nicht genau, wie Sie beide sich fühlen, aber mich haben diese letzten Sitzungen ziemlich frustriert. Ich finde wirklich, wir sollten jetzt mal zur Sache kommen. Mr. Paterson, was erwarten Sie von Ed?“
Er entgegnete: „Das habe ich Ed bereits gesagt. Ich will, dass er ein verantwortungsbewusster Erwachsener wird.“
„Schön“, antwortete ich. „Aber wissen Sie auch, was Ed will?“
„Ehrlich gesagt, nein.“
„Letzte Woche fingen Sie an, einen Draht zu Ihrem Sohn zu bekommen. Ich habe gemerkt, wie er da auf einmal ruhiger wurde. Er fing an, Ihnen zuzuhören, weil Sie ihm das gaben, was er will. Aber Sie müssen am Ball bleiben. Ed fällt es schwer, mit Ihnen zu reden. Er braucht es, dass Sie ihm Ihre Hand hinhalten. Dass es endlich funkt. Ich sehe, dass Sie das auch versuchen, aber es scheint dann immer in eine Predigt überzugehen. Predigen Sie nicht. Zeigen Sie Ihrem Sohn einfach, wie wichtig er Ihnen ist. Ed versucht, Sie zu erreichen, aber er weiß nicht, wie er das anstellen soll.“
Mr. Paterson hörte nachdenklich zu. Dann wandte er sich seinem Sohn zu. „Ed, ich glaube, Dr. Joe hat recht. Letzte Woche hab ich dir zur Genüge gesagt: ,He, Sohn, das und das brauche ich von dir.’ Vielleicht bist du jetzt dran.“ Ed sah schweigend nach unten.
Sein Vater fuhr fort und wurde persönlicher: „Vielleicht sollte ich mal hören, wie du dir das auf Dauer vorstellst mit uns beiden.“
Ed lachte nervös und sagte immer noch nichts.
„Nun, wollen Sie Ihrem Vater etwas sagen?“ ermunterte ich ihn.
Er lachte erneut und schwieg weiter. Sein Vater fuhr fort: „Sagst du jetzt, wo du bald 18 bist: ,Tschüss, Dad, ich tue jetzt, was nur passt’? Oder möchtest du mit mir eine Beziehung auf Dauer haben?“
„Ja, das möchte ich.“ Wieder nervöses Lachen.
„Was möchtest du?“
„Die Beziehung auf Dauer.“
„Ich frage dich deshalb, weil du doch so oft zu deiner Mutter gesagt hast: ,Wenn ich die High School hinter mir hab, geh ich.’“
Ich sah jetzt deutlich, dass Dennis Paterson sich durch seinen Sohn zurückgewiesen und als unwichtig behandelt fühlte. „Sie stellen diese Frage deshalb, weil Ihr Sohn Ihnen sehr wichtig ist“ warf ich ein.
„Ja, doch“, antwortete der Vater. „Das war er immer.“
Ich drehte mich Ed zu und fragte ihn: „Was sagt Ihr Vater Ihnen da gerade?“
„Dass er will, dass wir eine gute Beziehung haben.“
„Richtig. Aber Ihr Vater weiß nicht, wie er das auf Dauer schaffen soll. Er braucht Ihre Hilfe.“
Dann sagte ich seinem Vater: „Dennis, dies ist das erste Mal, dass Sie in einer Sitzung wirklich auf Ihren Sohn zugegangen sind. Sehen Sie, was geschieht, wenn Sie ein Gefühl ausdrücken?“
Er bekam Auftrieb und fuhr fort: „Was ich sage, ist dies: ,He, Junge, wir haben Probleme. Du wirst erwachsen und wirst uns verlassen, und wir bringen das am besten jetzt in Ordnung, bevor wir dich verlieren.“
„Richtig“, nickte ich.
„Es kommt jetzt einiges auf uns zu“, fuhr Mr. Paterson fort. „In ein paar Wochen, Ed, gehst du von zu Hause weg und ins College. Wenn wir bis dahin nicht ein größeres Vertrauen zwischen uns aufbauen, dann wirst du für immer weggehen. Wir sollten uns mal überlegen, woher dieses Problem kommt. Warum diese Entfremdung?“
Ed schwieg. „Reden Sie mit Ihrem Vater“, ermunterte ich ihn leise.
„Ich weiß nicht, wer ich bin, was ich bin … was meine Identität ist“, sagte Ed kläglich. „Deswegen wollte ich über nichts reden.“
Mit überraschender Sensibilität steuerte Dennis das Boot an der schmerzlichen Klippe des Themas ‚Homosexualität’ vorbei. „Sieh mal, Sohn, was du mir über deine Identität, über dich selbst zu sagen hast, ist doch irrelevant. Wichtig ist doch, dass ich eine gute Beziehung zu dir habe.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, stotterte Ed.
„Haben Sie Angst, dass Ihr Vater Sie verurteilen wird?“ fragte ich.
„Ich kritisiere dich doch nicht, Dad“, kam es aus Ed heraus. „Ich weiß wirklich nicht, warum du mich so kritisierst.“
„Vielleicht sollte ich … dich besser kennenlernen“, sagte Dennis Paterson. Ich fragte Ed: „Bei was für Dingen fühlen Sie sich denn wohl in Ihrer Haut? Was gibt Ihnen Selbstvertrauen?“
„Die Schauspielerei, der Theaterunterricht. Und ich hab auch schon Gedichte geschrieben.“ Zum ersten Mal in dieser Sitzung blickte er seinen Vater direkt an und sagte: „Es gibt so viel Dinge über mich, die ich dir noch nie erzählt hab, Dad.“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll, aber seine Augen waren groß, ja hoffnungsvoll.
Dennis Paterson nickte. „Ich hab in deinem Alter auch ein paar Gedichte geschrieben, Junge.“
„Für eines suche ich sogar einen Verleger“, lachte Ed.
„Das wäre schön. Ich will doch, dass du auf dich selber stolz sein kannst“, sagte sein Vater. „Wenn du deinen Lebensunterhalt als Künstler verdienen willst, dann musst du sehr energisch sein; die Konkurrenz ist groß, wie bei den Rechtsanwälten auch.“
Er fügte in sympathischem Ton hinzu: „Bei vielen Dingen bist du nicht energisch genug, Sohn.“ Er schwebte wieder am Rand eines Vortrags. „Wenn du keinen Erfolg hast, kriegst du auch kein Selbstvertrauen. Ich möchte dir helfen, Erfolg zu bekommen. Das Dichten oder Schauspielern kann ich dir allerdings nicht beibringen; ich kann dir nur das zeigen, was ich selber kann.“
Ich fragte Ed: „Was wollen Sie gerade jetzt von Ihrem Vater?“
Er zuckte die Achseln, als sei dies das größte Welträtsel.
Ich spürte jenes Wippwapp-Verhältnis, das man bei so vielen Vater-Sohn-Sitzungen findet: Wenn der eine seine Hand ausstreckt, zieht der andere sich zurück. Ed, der sich so dringend nach der Zuwendung seines Vaters sehnte, schien jetzt, als er sie bekam, auf einmal distanziert, wie gleichgültig – ein noch lebendiger Überrest der defensiven Distanz des kleinen Jungen. Ich konnte die Frustration der Väter von Homosexuellen gut verstehen.
Sein Vater sah, wie Ed zögerte, und blickte ihn an. „Ed, als du zwei oder drei Jahre alt warst und deine Mutter gerade verreist war, kriegtest du die Windpocken, und wir haben dich zum Arzt gebracht. Das Wartezimmer war proppenvoll und laut, und du hast geweint.“
Zum ersten Mal kam ein Zittern in Dennis Patersons Stimme. „Ich habe dich in meinen Armen gehalten und geschaukelt und dir Wiegenlieder vorgesungen. Was die anderen von mir dachten, war mir egal. Du hast mich durch deine Tränen hindurch angelächelt … und da hab ich das erste Mal begriffen, was das heißt, ein Vater zu sein. Du hast mir das damals beigebracht, Junge, als ich dich trösten durfte.“
Diesmal klang Eds Lachen tief und echt. Er sah seinen Vater zärtlich an.
Sein Vater fuhr fort: „Ich habe damals gedacht: ,Ich liebe dieses Kind; nichts soll uns jemals trennen.’ Ich war entschlossen, diesen Augenblick nie zu vergessen. Ich weiß, im Laufe der Jahre habe ich es dann doch vergessen. Aber du hast mir das damals beigebracht, Sohn – damals, als du klein warst.“

In der nächsten Woche kam Ed allein. Sein Vater war, wie so oft, gerade geschäftlich unterwegs. Wir kamen überein, zu den Einzelsitzungen zurückzukehren; Eds Vater würde nur nach Bedarf dazukommen. Aber Ed konnte sich ein triumphierendes Grinse nicht verkneifen: Sein Vater hatte ihm einen Sommer-Job in seinem Anwaltsbüro angeboten. „Als wir von der letzten Sitzung nach Hause fuhren, hatten wir im Auto noch ein langes Gespräch“ berichtete er. „Ich bat meinen Vater, mir soviel wie möglich über das Juristische zu zeigen, falls eine Künstlerkarriere doch nicht das Richtige für mich ist. Er sagte, er könnte mir eine ganze Menge beibringen.“ Eds Gesicht war voller Stolz und Selbstvertrauen.
Wir fassten zusammen, wie die Persönlichkeiten seiner Eltern ihn beeinflusst hatten. „Ihre Mutter geht emotional sehr aus sich heraus – bei Ihnen vielleicht zuviel. Auf der Gefühlsebene waren Sie zu eng an sie gebunden.“ Ed nickte. Ich fuhr fort: „Ihr Vater war im allgemeinen das Gegenteil: stark, direkt und willensstark im Beruf, aber in der Familie emotional nicht effektiv.“
Ich zeigte Ed seine deutliche defensive Distanz zu seinem Vater und sagte ihm, dass ich hier ein Verhaltensmuster der Abkehr von seinem Vater sah, für das er die Verantwortung zu übernehmen hatte und das klar in Gegensatz zu der Vater-Beziehung stand, die er eigentlich suchte.

Wenn Väter von Homosexuellen direkt mit ihren Söhnen interagieren sollen, neigen sie dazu, ein Gefühl der Hilflosigkeit, des Unbehagens, der Verlegenheit zu zeigen. Sie selber haben gewöhnlich nur wenige männliche Freunde (wenn überhaupt), und ihre Beziehung zu ihren eigenen Vätern war oft mangelhaft. Sie scheinen ihre Frauen in hohem Maße als Führer, Berater und Sprecher zu brauchen, besonders wo es um ihre Söhne geht. Im Verlauf der Behandlung stelle ich typischerweise auf beiden Seiten eine Antipathie, einen Widerstand und eine tiefe Verletztheit fest. Etwa die Hälfte dieser Väter behauptet, dass ihre Söhne sie offenbar seit früher Kindheit abgelehnt hätten. Eds Zurückweisung der Annäherungsversuche seines Vaters ließ mich besser verstehen, warum diese Väter – genau wie ihre Söhne – sich zurückgestossen vorkommen.
Der häufigste gemeinsame Nenner bei solchen Vätern ist, dass sie unfähig scheinen, die Energie aufzubringen, die zur Korrektur der Beziehungsprobleme mit ihren Söhnen nötig ist. Diese Väter fühlen sich angesichts der Hilflosigkeit oder Feindseligkeit ihrer Söhne festgefahren und hilflos, und anstatt sich diesen Problemen zu stellen, neigen sie zu Rückzug und Ausweichen – als Schutzschild vor Verletzungen. Ihre emotionale Verfügbarkeit ist irgendwie blockiert, und sie sind typischerweise unfähig, den ersten Schritt zur positiven Änderung der Beziehung zu tun. Manche dieser Väter sind starr und zerbrechlich, andere streng und kritisch, wieder andere weich, schwach und passiv. Wegen dieser emotionalen Distanz nennen ihre Söhne sie oft „Waschlappen“, obwohl sie außerhalb der Familie durchaus stark und erfolgreich sein können.

Zu der Zeit, wo ich dieses Buch schreibe, hat Edward erhebliche Fortschritte gemacht. Er ist im zweiten Studienjahr im College, wo er Theaterwissenschaft studiert. Samstags arbeitet er in der Anwaltskanzlei seines Vaters. Zum ersten Mal seit Jahren hat er mehrere neue heterosexuelle Freunde. Er trat einer studentischen Verbindung bei und unterzog sich dabei einem Aufnahmeritual – „rush week“ –, das für ihn ein stimulierendes Erlebnis war. Er lernte, dass er, um die Anerkennung durch Gleichaltrige zu erreichen, auch das Risiko des Zurückgewiesenwerdens überleben konnte. In dieser studentischen Verbindung fand er auch viel Gelegenheit, die Trennung zwischen Sexualität und seinen echten gleichgeschlechtlichen Bedürfnissen nach Zuwendung, Aufmerksamkeit und Bestätigung zu üben. Er fühlt sich im College wohl und glaubt, dass sein Leben in die richtige Richtung geht.
Von seiner allzu engen Mutterbeziehung hat Ed sich distanziert, und mit seinem Vater versteht er sich jetzt viel besser. Doch wenn auch einige wichtige Barrieren zwischen Ed und seinem Vater durchbrochen worden sind, ist nach meinen Erfahrungen die Kapazität für eine wirklich dauerhafte Vertrautheit zwischen homosexuellen Männern und ihren Vätern begrenzt. Die Heilung der Vater-Sohn-Wunde scheint mir weniger das Ergebnis echter Veränderungen beim Vater zu sein als vielmehr des wachsenden Verständnisses und Akzeptierens der väterlichen Grenzen durch den Sohn.
Noch lässt sich nicht sicher sagen, in welcher Richtung Eds Leben verlaufen wird. Als 20jährigem stehen ihm noch viele Veränderungen bevor, aber die Anzeichen sind stark, dass dieser ehrliche und wohlmeinende junge Mann seinen redlich verdienten Weg hin zur Heterosexualität weitergehen wird.

Quelle: Joseph Nicolosi, „Homosexualität muss kein Schicksal sein – Gesprächsprotokolle einer alternativen Therapie“, Kapitel 7. © 1995 Aussaat Verlag GmbH, Neukirchen-Vluyn, Originalausgabe © 1993 Jason Aronson Inc. New Jersey.